Nur Ähnliches ist Ähnlichem ähnlich

Eine dumme, unbedachte Äußerung:

„Der Aufstieg der Piratenpartei verläuft so rasant wie der der NSDAP zwischen 1928 und 1933“

(Quelle und Distanzierung) Im IRC erlebe ich nun einige Piraten, die nicht ganz verstehen, wieso der Vergleich so problematisch sei, da doch nicht die Parteien selbst, ihre Programme, ihre Strukturen, ihre Absichten miteinander verglichen wurden, sondern ihr Aufstieg, d.h. objektivierbare Zahlen. Wo sollte also das Problem sein?

Tatsächlich lässt sich der Satz mit dem Denkstil eines Informatiker, Mathematikers oder Physikers (Der Urheber des Satzes ist Physiker und arbeitete als Softwareentwickler [Quelle].) leicht zerlegen: Politischen Parteien lässt sich über Zeitintervalle eine Kurve ihrer Umfrage- und/oder Wahlergebnisse zuordnen und mittels geeigneter Instrumente lassen sich Ähnlichkeiten feststellen, etwa dass bei geeigneter Zuordnung der Zeitintervalle die Differenz der gemessenen Zahlen eher klein ist oder dass die Steigerungsraten einander entsprechen oder dass es gemeinsame Sattelpunkte, Extremwerte etc. gibt – kurz: dass sich eine (im Idealfall: wohldefinierte) Ähnlichkeit in einem bestimmten Aspekt der Attribute zweier Objekte finden lässt. Das ist eine verobjektivierbare Frage: Es trifft zu oder es trifft nicht zu. – Der (logische) Schluss auf Ähnlichkeiten hinsichtlich anderer Attribute ist unzulässig: Nur weil Tomate und Apfel eine ähnliche Form haben, schmecken beide noch lange nicht gleich.

Ja, es wäre so einfach, wenn die Welt aus Informatikern, Mathematikern und Physikern bestünde und nicht die bestverteilteste Sache der Welt diesen richtigen Überlegungen immer wieder in die Quere käme: der gesunde Menschenverstand. Dieser ist übrigens deshalb die bestverteilteste Sache der Welt, weil notorisch jede und jeder der Auffassung ist, genug davon zu besitzen und spätestens damit beginnen die Probleme: Der gesunde Menschenverstand neigt nämlich dazu, nicht allzu genau hinzusehen, gerade wo er nicht im Übermaß vorhanden ist. Er macht sich darüberhinaus zum willfährigen Sklaven der Interessen und Neigungen, wo er es der interessierten Seite leicht macht, nur das eine oder nur das andere zu sehen, so wie es eben beliebt. Und schließlich, und das ist aus der Sicht der Informatiker, Mathematiker und Physiker sicher das schlimmste:

Der gesunde Menschenverstand ist nicht logisch.

Um das klar zu machen, muss ich philosophisch etwas ausholen, werde mich aber kurz halten. Interessierte Leser finden beispielsweise in Deleuze‘ Kant-Buch Details.

Der gesunde Menschenverstand ist vor allem ein Vermögen, das danach strebt die anderen Erkenntnis- und Wahrnehmungsvermögen des Menschen in eine Harmonie zu bringen. D.h. seine Funktion ist nicht, Unterschiede zu sehen und skeptisch das Eine kritisch vom Anderen zu trennen, sondern er stellt Verbindungen her. Das ist praktisch, wenn man einkaufen geht, weil er uns die philosophisch (und neurologisch) überaus schwierige Frage erspart, wieso der Apfel, den wir gerade betasten, sehen, riechen (Wahrnehmungsvermögen), ein und dasselbe Objekte ist und wirklich und tatsächlich in der Realität einigermaßen zeitstabil als Apfel vorhanden ist (Rekognitionsvermögen). Nein, er ist einfach ein Apfel. Er leistet dies, indem er eben nicht wissenschaftlich genau vorgeht, sondern ungefähre Eindrücke zusammenzieht und deren Einheit unterstellt. Dies darf aber keinesfalls als Aufforderung verstanden werden, den gesunden Menschenverstand abzulehnen. Wir würden sofort blind umher irren und vor lauter Farben, Gerüchen, Geräuschen, Gefühlen… nein, nicht den Verstand verlieren: den hatten wir ja schon qua Voraussetzung abgelehnt.

Doch wie funktioniert das Zusammenziehen? Der gesunde Menschenverstand ist – grob gesprochen – eine Funktion, um Einheit dort herzustellen, wo sie sich bestenfalls nur andeutet. Und das ist, unter anderem, die Ähnlichkeit. Eine Regel des gesunden Menschenverstandes ist, dass nur das Ähnliche dem Ähnlichen ähnlich ist. Das ist natürlich logisch falsch und wissenschaftlich gesehen ziemlicher Unfug, klar, aber zu den schockierenden Momenten jedes Studiums gehört der Moment, in dem klar wird, dass unsere Alltagsintuition inkonsistent ist. Cantor und Frege können ein trauriges Lied davon singen. Aber diese Funktion, nur das Ähnliche dem Ähnlichen als ähnlich anzusehen, funktioniert, leider, auch in so genannten Ratschlägen. Beinahe jeder dürfte schon einmal gehört haben, dass Walnüsse gut für das Gehirn seien und dazu suggeriert bekommen haben, dass Walnüsse mit ihrer Struktur den Gehirnfalten nicht unähnlich seien. Der gleiche Unfug ist am Werk, wenn unser Gehirn bittere Medizin besser wirken lässt als süße oder wenn ein betrügerischer Homöopath Coffein gegen Schlaflosigkeit anrührt.

Es hilft aber nichts, dass die Regel, dass nur das Ähnliche dem Ähnlichen ähnlich sei, falsch ist. Es ist eine Sisyphosarbeit all den Auswüchsen dieser Funktion als wissenschaftlich aufgeklärter Geist immer und immer wieder zu widersprechen. Die Aufklärung wird hier nie zu ihrem Ende kommen: Die Regel ist und wird auch weiterhin in unserem Geist am Werk sein, uns beim Einkaufen helfen und leider auch viele politische Entscheidungen steuern. Wir sind eben keine rationalen Wesen, sondern nur Wesen, die der Rationalität grundsätzlich fähig sind. Denken, kritisches Denken ganz besonders, bleibt die Ausnahme. Das ist beklagenswert – gewiss! – und die Anwendung des gesunden Menschenverstands in der Politik hat großes Potential sich als Sargnagel der Demokratie zu erweisen, aber umso wichtiger ist, dass die, denen das Denken außerhalb des gesunden Menschenverstandes leicht fällt, um die Gefahr wissen und sich jeder unabsichtlichen Andeutung von Ähnlichkeit enthalten: Die Ähnlichkeit in einem Aspekt ist für den gesunden Menschenverstand immer auch die Ähnlichkeit der Sache selbst.

Die Beispiele für diese Regel füllen Tragödien unserer Geschichte und jede Science Fiction-Serie spielt früher oder später damit, wenn sich das häßlichste Alien als freundlich und das schönste (und meistens dann auch dem Menschen ähnlichste) Alien als das feindliche herausstellt. Deshalb sind in Telenovelas die bösen Frauen niemals blond und in traurigen Geschichten der frühen Neuzeit die rothaarigen Frauen allzu oft Hexen: Wer Haare hat rot wie das Feuer, mit dem kann etwas nicht stimmen.

Ich weiß, ich wiederhole mich, aber es muss in die Köpfe der Piraten rein, damit solche Sätze nicht mehr fallen: Deute niemals und unter keinen Umständen eine Ähnlichkeit in einem noch so wohldefinierten Aspekt an, wenn Du keine Ähnlichkeit der Sache selbst unterstellen willst. Der gesunde Menschenverstand funktioniert so und wenn Du Politik machen willst, dann musst Du die Menschen eben da abholen, wo sie stehen und – so grauenhaft das auch ist! – das ist nicht im Tempel der Vernunft, sondern im Alltag, den der gesunde Menschenverstand regiert.

Über Kai Denker

Kai Denker studierte Philosophie, Geschichte und Informatik an der TU Darmstadt. Seitdem sitzt er an einer Promotion in Philosophie mit einem Projekt zu dem Problem der Mathematisierbarkeit von Sprache bei Gilles Deleuze. Er ist Verbundkoordinator des BMBF-geförderten Forschungsvorhabens "Meme, Ideen, Strategien rechtsextremistischer Internetkommunikation (MISRIK)".
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13 Antworten zu Nur Ähnliches ist Ähnlichem ähnlich

  1. plomlompom sagt:

    Wenn ich dich richtig verstehe, ist „der gesunde Menschenverstand“ des Masse eine Größe, deren Kurzschlüsse derjenige einberechnen muss, der sich öffentlich äußert; in deren Erwartung er seine Äußerungen so anpassen muss, dass sie nicht in den Einzugsbereich dieser Kurzschlüsse kommen; wer das unterlässt, handelt fahrlässig, gefährlich. Am Besten, man tätigt gar keine politischen Aussagen, in denen sich diese Kurzschlüsse verheddern könnten — es sei denn vielleicht, man will diese Kurzschlüsse bewusst manipulativ nutzen. Also z.B. einen in sich „informatisch“ unproblematischen NSDAP-Vergleich ziehen, um etwa das Unbewusste piratischer Nazis zu triggern.

    Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass Martin Delius letzteres beabsichtigte, aber darum geht es wohl auch gar nicht, sondern eher darum, ob sein „informatisches“ Denken fahrlässig gegenüber dem „gesunden Menschenverstand“ war.

    Erst einmal riecht mir das Bild zu sehr nach „der Pöbel ist dumm, also lernt, manipulativ statt sachlich zu kommunizieren“. Ist der Pöbel wirklich dumm, dann ist manipulative Kommunikation vielleicht eine legitime Taktik, um bestimmte Ziele zu erreichen. Aber /will/ man eine Öffentlichkeit, die dumm ist und dadurch leicht durch Parolen manipulierbar, die eher auf Kurzschlüsse setzen statt auf z.B. logisches Denken? Den /Piraten/ jedenfalls unterstelle ich eine gewisse Vorliebe für basisdemokratische Ideen, und zugleich eine gewisse Vorliebe für Vernunft-statt-Unvernunft-geleitete Politik. Damit einhergehend unterstelle ich ihnen auch, dass sie keinen dummen und mit einfachen Hetzparolen steuerbaren Pöbel als Gesellschaft haben wollen, sondern eine „constituency“, die möglichst aufgeklärt ihre Entscheidungen und Bewertungen trifft. Also auch eher eine, die fähig ist, zwischen einem „Vergleich“ und einer „Gleichsetzung“ zu unterscheiden. Ebenso unterstelle ich den Piraten, dass ihrem Ideal nach öffentliche Debatten eher aufklärerisch statt hetz-populistisch-kurzschlüssig verlaufen.

    Man könnte jetzt einwenden: Allen Idealen der Piraten zum Trotze ist der Pöbel aber dumm, und die öffentliche Debatte in erster Linie eine der Kurzschlüsse des „gesunden Menschenverstands“; daran also haben sie sich zu orientieren. Das blendet aber meines Erachtens die Wandlungsfähigkeit von Menschen und Debattenkulturen aus. Wenn die Piraten in einer Weise kommunizieren, die Dummheit und „gesundem Menschenverstand“ bestätigend entgegen kommt, tragen sie auch etwas dazu bei, dass diese Kulturen unverändert bleiben. Wenn sie dagegen anders kommunizieren, treten sie dabei sicherlich in diverse Fettnäpfchen und gehen allerlei Risiken ein, falsch verstanden zu werden; je nachdem, wie stark sie dabei in ihrer öffentlichen Rolle sind, können sie aber auch Veränderungen in der Art der öffentlichen Debatte und des öffentlichen Denkens bewirken, die sich ihren eigenen Idealen annähern.

    Ist das mit dem Verändern der öffentlichen Debattenkultur möglich, dann sind die effektvollsten Angriffspunkte sicherlich gerade solche, wo bestimmte Arten des Redens und Diskutierens und öffentlichen Nachdenkens miteinander in Konflikt geraten, sich aneinander reiben, Tabus verletzt werden usw. Sprich, gerade die Stellen, die großes Skandalisierungs-Potential haben. Dabei entstehen Missverständnisse? Ein prima Anlass, aufzuzeigen, wo das Verständnis der einen Seite sich vom Verständnis der anderen Seite unterscheidet, und für die eigene Sorte des Verständnisses zu werben!

    Gibt es Reibung zwischen der Denkkultur, die die Piraten für gut und richtig halten, und derjenigen, die etwa SPIEGEL ONLINE betreibt, dann ist es vielleicht sogar unerlässliche politische Mission, die eigene Denkkultur zu behaupten und zu propagieren, anstatt kleinmütig sich dafür zu entschuldigen, tradierte Tabus verletzt, Denkfaulheiten keine Opfer dargebracht, unhinterfragte Prämissen nicht mit Samthandschuhen angefasst zu haben. Will man eine aufgeklärte Basisdemokratie, muss man sich wohl auch irgendwie dafür einsetzen, dass aufklärerisches Denken sich in der Basis ausbreitet. Das geht nicht, indem man klein bei gibt gegenüber Erwartungen/Wünschen, man solle doch anti-aufklärerisch kommunizieren, Komplexes notfalls unzulässig vereinfachen, den Diskurs auf das Vermögen des kleinsten Zuhörer-Gehirns schrumpfen.

    Bezogen auf die konkrete Nazi-Frage: IMHO ist dem antifaschistischen Kampf nicht geholfen, wenn vom Faschismus und seinen Phänomenen nur geredet werden darf im Ausnahme-Fall und wenn sich alle in ihrer Meinung einig sind; ebenso wenig, wenn sachliche Vergleiche mit diesem oder jenem Unter-Aspekt sofort zu moralische Fragen und Tabus erhoben werden müssen. Nüchtern analysiert sich ein Problem immer noch am Besten. Und zu dieser Nüchternheit gehört auch, dass man Themen und Gegenstände nicht mystifiziert und tabuisiert; dass man sich die Möglichkeit zum Differenzieren beibehält, anstatt bei jeder Gelegenheit guilt-by-association zu fahren; dass man sich bemüht, moralische Urteile zu trennen von etwa Fragen nach historischen Fakten. Ein großes Tuch aus Undiskutierbarkeit, Unvergleichbarkeit, Außerirdischkeit über das Dritte Reich zu legen, ist IMHO nichts, was der Aufarbeitung desselben oder der Bekämpfung von modernem Nazismus nützt. Gerade wenn die Piraten sich anti-nazistisch profilieren wollen, sollten sie an einem solchen Tuch nicht mitweben, selbst wenn es den Gepflogenheiten des deutschen Mainstreams entspricht.

  2. Kai Denker sagt:

    Ich muss sagen, dass mich Deine Antwort etwas überrascht: Ich habe den gesunden Menschenverstand nicht als Merkmal des Pöbels dargestellt, sondern versucht, deutlich zu machen, dass es sich um einen Effekt des ganz normalen Alltagsverstandes handelt, den jeder von uns beständig einsetzt. Der gesunde Menschenverstand wird nur dann zum Problem, wenn man ihn dort einsetzt, wo er, anders als etwa die wissenschaftliche Methode, nicht gut funktioniert. Das ist z.B. bei der Modellierung der Mengenlehre der Fall gewesen. Die Intuition führt hier zu einem inkonsistenten Modell. Der Grund dafür ist natürlich, dass der gesunde Menschenverstand inkonsistent ist, wenn man ihn einer logischen Betrachtung aussetzt. Es ist vielleicht missverständlich formuliert gewesen, aber die faktische Inkonsistenz des gesunden Menschenverstandes negiert ihn nicht in seiner Funktion. Wir tun viele Dinge ohne logische oder wenigstens konsistente Gründe und egal wie weit die Aufklärung voranschreitet: Das wird immer der Fall bleiben. Ich habe das Einkaufsbeispiel nicht polemisch, sondern durchaus wörtlich gemeint: Ohne diese alltäglichen Funktionen können wir fast gar nichts. Wir dürfen aber eben auch nicht Fehler machen, den gesunden Menschenverstand mit einem Absolutheitsanspruch auszustatten – weder im positiven, noch im negativen: Er ist weder absolut gut, wahr, schön – noch ist er absolut schlecht, falsch und widerlich. Es gilt einfach erst einmal festzustellen, dass der gesunde Menschenverstand da ist und nach unlogischen Regeln arbeitet. Und auch wenn es natürlich Gründe gibt, das rational-logische Argumentieren für die bessere Methode zu halten (ich bin schließlich selbst Wissenschaftler!), scheint es mir doch sehr autistisch, einseitig auf dieser Methode zu bestehen. Stattdessen finde ich es menschlicher und fairer, den Anderen erst einmal ihre Affekte zuzugestehen und zuzugeben, dass sie nicht auf jeden Satz mit einer vollends aufgeklärten, selbstkritischen Rationalität reagieren, sondern dass die meisten Reaktionen ungenau, vorschnell, oft emotional sind. Das ist zunächst eine Tatsache. Es ist aber eben auch keine Manipulation, diese Tatsache erstmal anzunehmen. Zur Manipulation wird es erst, wenn aus der Annahme der Tatsache die Ausnutzung der Tatsache wird. Das ist das, was die Politiker herkömmlicher Parteien machen, wenn sie nur emotional konnotierte Botschaften transportieren wollen. Wissen, dass die emotionale Konnotation einer Botschaft funktioniert, heißt nicht, dass man sie auch gleich ausnutzt, um sein Interesse durchzukriegen. Erst damit würde es zur Manipulation. Entsprechend hast Du mein Argument unzulässig verzerrt: Wenn ich schreibe, dass es darum gehen muss, Menschen dort abzuholen, wo sie stehen, dann bedeutet das gerade nicht, dass man sie dort stehen lässt, sondern dass man sie dort abholt – hier aber in dem Wissen, dass der gesunde Menschenverstand etwas ist, das niemals verschwinden wird, sondern nur etwas ist, was sich relativieren, ergänzen lässt, etwa indem ein wissenschaftlich gebildeter Geist zur Seite gestellt wird. Insofern das Projekt der Moderne tatsächlich ein Projekt der Selbstzähmung ist (was mit Recht bezweifelt werden kann), dann ist es eben ein Projekt der Zähmung im genauen Sinne: Etwas wird nicht beseitigt, sondern es wird durch Ergänzung, durch ein Mehr an Wissen etwa, kultiviert. Entsprechend finde ich den Vorwurf, ich würde der Manipulation das Wort reden, völlig bizarr und an den Haaren herbeigezogen. Man kann schließlich nicht beides haben und hier argumentierst Du widersprüchlich: Du kannst nicht gleichzeitig aufklären wollen und dann das de facto noch-unaufgeklärt-Sein ablehnen. Man kann Menschen nicht aufklären, indem man es ihnen nicht so sagt, dass sie es verstehen. Und das heißt eben auch, dass man die politische Kultur eines Landes nicht verändern kann, wenn man nicht erst einmal zur Kenntnis nimmt, wie die politische Kultur de facto gerade ist. Und de facto, ob man das nun gut findet oder nicht, ist die politische Kultur dieses Landes so, dass einem nicht mehr zugehört wird, sobald man unter den Verdacht des Nazismus gerät – und das tut der gesunde Menschenverstand, ob berechtigt oder nicht, mittels der Regel, dass Ähnliches nur dem Ähnlichen ähnlich ist, sobald er auf einen wie auch immer gearteten, positiv formulierten NSDAP-Vergleich trifft. Das ist de facto so. Tatsache. Ob gut oder schlecht, sei dahingestellt. Und da es eine Tatsache ist, ist es eine einfache Klugheitsregel:

    Du bist in einer politischen Kultur, die vom gesunden Menschenverstand geleitet wird. Das ist zunächst einmal eine völlig wertfreie Tatsache. Der gesunde Menschenverstand verfährt nach der Regel, dass nur das Ähnlich dem Ähnlichen ähnlich ist. Wenn Du einen Vergleich machst, wirst Du bei vielen Menschen diese Regel auslösen. Das kann, was Du eigentlich sagen willst, völlig kaputt machen. Riskiere es also besser nicht, sondern gib ihnen eine Chance dich zu verstehen – in Deinem und in ihrem Interesse!

  3. plomlompom sagt:

    „Man kann Menschen nicht aufklären, indem man es ihnen nicht so sagt, dass sie es verstehen.“

    Oh, fürs Erklären der eigenen Position bin ich auch. Gerne auch mit Arbeits-Einsatz, dass man sich um Verständlichkeit bemüht. Aber daraus lässt sich keine Pflicht herleiten, bestimmte Dinge nicht mehr zu äußern, weil sie manchem Zuhörer vielleicht missverstehen könnte. Man kann sich dann auf Nachfrage erklären, oder wenn man merkt dass man missverstanden wird, oder sogar vorauseilend, weil man antizipiert, dass man nicht verstanden wird. x sagt y, die Zuhörer missverstehen es — x erklärt wie er y gemeint hat; alles prima.

    Was ich doof finde: x soll y nicht mehr sagen, weil es missverstanden werden könnte. Das verringert die Möglichkeiten, laut zu denken und sich dabei mit Leuten auszutauschen, die einen durchaus richtig verstehen — und das ist eine Verarmung der öffentlichen Debattenkultur. Je lauter das Niederschreien von x ist, weil seine Aussage von irgendwem fehlverstanden werden könnte, desto eher wird wohl einsetzen, dass x nicht mehr im selben Maße produktiv frei laut denken kann. Darum finde es problematisch, wenn lautes Denken so eifrig und schrotflintig skandalisiert wird, wie das z.B. bei Martin Delius der Fall ist; und zwar mit Diskurs-Standards als Waffe, die nicht mal das Gemeinte richtig identifizieren, sondern es nur nach Begriffs-Assoziations-Gefühl verdammen. (Soweit ich Delius verstanden habe, war die Bezugnahme auf die Wachstumszahlen der NSDAP auch nicht positiv gemeint, im Gegenteil: Das schnelle Wachstum der Piraten bereitet ihm Sorge.)

    Sollte man deshalb das Skandalisieren verbieten, nur noch Kritik in wissenschaftlicher Genauigkeit erlauben, von allen Zuhörern und Kommentatoren erwarten, dass sie die Nerd-Denkweise derer übernehmen, die sie kritisieren? Keineswegs. Vielleicht gibt es sogar umgekehrt z.B. taktische Gründe, warum die Nerds ihr lautes Denken stärker den Gepflogenheiten des Mainstreams anpassen sollten. Aber — ich glaube, es gibt ebenso gute Gründe, warum sie ihre Art des Denkens behaupten, pflegen, verteidigen sollten. Weil ich z.B. eine autistisch-ausgenüchterte Debatte über diverse politische Themen für einen guten Gegen-Entwurf halte zu einer Debatte, die gezeichnet ist von empathischem Eifer oder moralischen Tabus, was sachlich gefragt oder verglichen werden darf.

    Ich glaube, auch die restliche Öffentlichkeit könnte davon profitieren, wenn hier mehr auf eine „nerdische“ Weise debattiert wird. Insofern halte ich es durchaus für wünschenswert, dass nicht nur die „de facto“ zu akzeptierende politische Debatten-Kultur als Ist-Zustand auf die Piraten ausstrahlt, sondern umgekehrt auch die der Piraten auf den Rest. Dabei ist es vermutlich hilfreich, wenn man die Nerdigkeit der eigenen Diskussions-Weisen nicht nur als unprofessionellen Makel begreift, und sich für daraus entstehende Reibungen dann demütig entschuldigt, öffentlich schämt, Posten-Kandidaturen deshalb aufgibt; sondern stattdessen auch gelegentlich auf der eigenen Weise besteht, selbst wenn sie leicht skandalisierbar ist, so man sie denn aus „informatischer“ Perspektive für legitim hält.

    Gerade dass eine bestimmte Weise skandalisierbar ist, obwohl sie aus „informatischer Perspektive“ legitim erscheint, ist ein gutes Indiz, dass hier die Kurzformeln des „gesunden Menschenverstands“ kritisch angegangen werden sollten und vielleicht ein Update nötig haben. Statt vor dem Skandal die Flucht zu ergreifen, gilt es dann, sich umso intensiver öffentlich mit seinem Trigger zu befassen, zu diskutieren, wie man das meint was man gesagt hat und warum man es für legitim hält usw.

    „Der gesunde Menschenverstand verfährt nach der Regel, dass nur das Ähnlich dem Ähnlichen ähnlich ist. Wenn Du einen Vergleich machst, wirst Du bei vielen Menschen diese Regel auslösen. Das kann, was Du eigentlich sagen willst, völlig kaputt machen. Riskiere es also besser nicht, sondern gib ihnen eine Chance dich zu verstehen – in Deinem und in ihrem Interesse!“

    Ich soll bestimmte Argumente aus meiner Positionierung disqualifizieren, weil die Intuition vieler Menschen mit ihnen Schwierigkeiten hat? Das scheint mir ein nicht geringeres Risiko als das, ich könnte missverstanden werden. Wenn ich mein argumentatives Instrumentarium künstlich auf das begrenze, was viele verstehen, muss ich wahrscheinlich auf manches kritisches Argument verzichten, das z.B. in einer politischen Frage den entscheidenden Ausschlag geben könnte. IMHO kann der Weg hier nicht im Verzicht auf ein Argument liegen, sondern höchstens im erhöhten Arbeits-Einsatz, dieses Argument verständlich zu machen.

    Das Verständlich-Machen des Arguments wiederum kann aber sowohl ansetzen in meiner Formulierung des Arguments — vielleicht lässt es sich ja auch in etwas einfacherer Grammatik, mit einem einleuchtenden Beispiel, mit weniger Fremdwörtern darlegen — als auch am Verstand der Leute, die ich erreichen möchte. Nun kann ich wohl niemanden mit vorgehaltener Waffe zwingen, dem Verständnis meiner Position einige Bibliotheks-Besuche und einige Stunden Meditation zu widmen. Aber soweit ich eine öffentliche Stimme habe, trage ich durchaus etwas bei zum Niveau der Debatte und dem Maße, indem sie etwa Denkfaulheit fördert oder angreift.

    Und da tue ich mir sicherlich keinen Gefallen, wenn ich, nachdem mein Argument missverstanden wurde, mich dafür entschuldige, ein solches überhaupt vorgebracht zu haben, und stattdessen reumütig eingestehe, natürlich könne man so etwas nicht sagen, natürlich dürfe man diesen Vergleich nicht ziehen, natürlich sei diese oder jene Konsequenz indiskutabel. Damit leiste ich nicht nur meinem eigenen Argument einen Bärendienst — sondern auch allen anderen Diskussionspartnern, die Argumente vorzubringen haben, die vielleicht etwas konter-intuitiv sind. Insofern würde ich sogar für eine Pflicht plädieren, konter-intuitive Argumente im öffentlichen Diskurs vorzubringen und auch gegen Skandalisierung zu behaupten. Im Zweifel: mehr trollen!

  4. toslson sagt:

    moin,

    gehts auch mal kürzer einfacher unkomplizierter
    z.b.
    „upps da hab ich was verzockt“

    stattdessen ganze Blog bücher ohne klare Aussage

    LG T aus T
    http://www.piratenpartei-rtk.de/

  5. Kai Denker sagt:

    Meinst Du meinen Blogbeitrag selbst oder diese etwas aus dem Ruder gelaufene Diskussion mit plomlompom?

  6. Kim sagt:

    Ich bin weder Informatiker, Mathematiker noch Physiker.

    Für mich ist die Aussage von Delius ein Vergleich einer Angabe in Zeit und Menge. 1928 bis 1933 = 5. 2006 bis 2011 = 5.

    Vielleicht macht sich in Zukunft bereits verdächtig, wer beim Tischdecken das Messer rechts und die Gabel links des Tellers nieder legt. Macht man es allerdings anders rum, ist es auch nicht richtig. Ich werde in Zukunft meine Bestecke mittig auf meinem Teller platzieren und das werde ich auch so kommunizieren. Ich hoffe, damit kann mir dann keiner …

  7. Kai Denker sagt:

    Darum ging es ja gerade: Nicht jeder denkt in dieser formalen Bewegung und dass die Mehrheit es nicht tut, muss man einfach zur Kenntnis nehmen. Der gesunde Menschenverstand operiert eben mittels Ähnlichkeiten. Ich finde aber nicht, dass man darauf trotzig reagieren sollte.

  8. Kim sagt:

    Manch einer denkt zu viel.

    Wenn man einfach nur das liest, was da steht, kommt man zu einem Ergebnis, das Zeit vergleicht. Nicht mehr und nicht weniger.

    Wenn man dann auch noch aufhören würde, in solche Äußerungen 1000jährige Geschichte hinein interpretieren zu wollen, wäre die Welt ein Stück weiter.

    Aber wir haben Wahlkampf, das Land kappelt sich und Delius hat es nicht verstanden, seine Aussage auf einen Zeitvergleich zu reduzieren. Mehr kann ich ihm allerdings nicht vorwerfen.

    Wenn ich was zu sagen hätte, würde ich seinen Rücktritt von der Kandidatenliste ablehnen.

  9. Kai Denker sagt:

    Ich finde, Deine Antwort geht am Problem und an den hier angestellten Überlegungen vorbei. Der gesunde Menschenverstand ist gerade ein Vermögen, in dem nicht gedacht wird, sondern in dem Assoziation automatisch ablaufen. Mehr Denken ist nie verkehrt.

  10. Pingback: Denker über Piratengedanken « Freiheit, Mensch und ich

  11. Daniel sagt:

    Das Problem auf die berufliche Herkunft und die daraus möglicherweise vorhandene Denkweise zu reduzieren, verkleinert das Problem auf unzulässige Weise.
    Die Piratenpartei hat die Frage nach der Freiheit gestellt und viele haben verstanden, dass wer gefragt hätte: “ Wollt ihr die totale Freiheit?“ Das hat zwar niemand, aber so wird verständlich, warum via Twitter, Parteiforen und sonstigen Verlautbahrungen antisemitische, rassistische und sexistische Haltungen, Gedankenstränge oder auch nur Ansätze mehr oder minder deutlich gezeigt werden. Die deutsche Normalität, die sich bislang vermehrt an Stammtischen offen zeigte, bricht sich Bahn. Die Piratenpartei wird sozusagen von Alltagsrassimus, alltäglichem Antisemitismus und Sexismus unterlaufen und niemand in dieser Partei ist sich dessen ernsthaft bewußt. So trifft eine offene Plattform auf die deutsche Normalität. Das ist brandgefährlich. Am Ende gibt es beim Delius-Vergleich noch eine weitere Analogie: das Gefahrenpotential ist auch bei der Piratenpartei gegeben.

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