Anscheinend springen schnell noch einige auf den abfahrenden Lauer-Zug auf und schimpfen auf Twitter. Besonders lustig (und fabelhaft falsch) finde ich ja Katrin Rönickes Rant, dass Twitter wie die DDR sei. Das klingt lustig und interessant, ist aber leider ziemlicher Blödsinn.
Von einigen anekdotischen Bemerkungen abgesehen scheint mir Rönickes Argument darauf hinauszulaufen, dass die Diskursformation auf Twitter abweichende Meinungen sanktioniere und daher totalitär (=DDR) sei. Akzeptieren wir die Behauptung, die DDR sei totalitär gewesen, unhinterfragt, obgleich sie, wenngleich wahrscheinlich grob richtig, eine ziemlich unterkomplexe Beschreibung der Herrschaftsformen im DDR-Sozialismus darstellt. Es bleibt also zu zeigen, dass die Sanktionierung von Meinungen auf Twitter totalitär ist.
Nun, dieser Versuch scheitert: Für die Totalität fehlt die totale ideologische Konstitution einer gemeinsamen Idee von der materialistisch-historisch aufgeladenen Revolution der Arbeiterklasse o.ä. – Die Herstellung von Totalität in einer Diskursformation hängt aber genau am Vorhandensein einer totalitären Ideologie, die sich in den einzelnen Aussagen ihrer Anhänger bloß aktualisiert. Was prima facie totalitär erscheint, muss aber nicht notwendig im engeren Sinne totalitär sein. Tatsächlich beschreibt Rönicke auch keine Totalität, die die ganze Diskursformation auf Twitter erfasst, sondern umkreist ein nur anekdotisch verankertes Problem. Totalität hat seine Wurzel im lateinischen: „totus“ bedeutet „ganz“. Damit kann es in der lokalen Filterblase sicher totalitäre Ideologien geben, die abweichende Meinungsaktualisierung sanktioniert, aber damit ist noch lange keine Aussage über alle Aussagen auf Twitter und schon gar keine Aussage über Twitter selbst erbracht. Würde dieses Argument funktionieren, dann wäre die Menge der natürlichen Zahlen nämlich prim und insbesondere alle natürlichen Zahlen selbst wären prim, denn schließlich gibt es unendlich viele konkrete einzelne Primzahlen: von den Eigenschaften einer Teilmenge ist aber weder auf die Extension der Grundmenge noch gar auf die Intension derselben zu schließen.
Stattdessen ist Twitter vom Totalitären maximal weit entfernt. Twitter bildet etwas, was man als ein fragmentarisches Ganzes charakterisieren kann. Es gibt keine durchgehende Diskursformation, sondern es gibt je lokale Diskursformationen, die lokal sicher totalitär sein können. Nun, man kann auch einfach die falschen Freunde haben. Die korrekte Beschreibung ist daher nicht die Totalität, sondern die Meute. Die übergreifende (Familien)Ähnlichkeit der Twitter-Diskursformationen findet sich allenfalls im Konzept der Meute, das ohne gemeinsame Regel auskommt. Es ist eine Ansammlung (keine Versammlung!) von Benutzer*innen, die nicht auf der Basis von Argumenten oder Ideen, sondern auf der Basis von Affekten operieren: Interessant ist, was über die Bewusstseinsschwelle kommend aus dem schnellen Strom der Tweets heraus einen Affekt auslöst, der beispielsweise belustigen oder empören kann. Das ist aber nichts besonderes für Twitter mehr. Twitter macht es nur besonders offensichtlich. Die Meute, die sich von Argumenten zugunsten von Affekten verabschiedet hat und von diesen treiben lässt, ist auch die Meute, die Blogs liest und von einer Aussage wie „Twitter ist totalitär!“ empört wird, um darauf zu reagieren – etwa mit einem gezielten „Du Honk!“ Das Kesseltreiben der Meute könnte aber nicht weiter entfernt sein von der Inszenierung Orwells oder der Planung eines DDR-Zentralkomitees. Sowas sollte man™ eigentlich wissen.
danke, spannende auseinandersetzung.
ich glaube, dass rönicke richtig liegt – wenn auch nur für bestimmte phasen, themen, momente auf twitter. wenn dich mal ein shitstorm überrollt hat, weisst du das. und es sind ja nicht etwa deine „falschen freunde“, wie du meinst; nein jeder postet etwas, dein akronym eingepreist, und dann ist es in deiner timeline. Und kotzt dich an.
ausdrücklich meine ich: NUR PHASENWEISE. bei bestimmten themen.
du meinst, es brauche ein geschlossenes totalitäres weltbild mit bestimmten aspekten, auf das man sich vorher vereinbare. das ist mir zu akademisch. es gibt eine kritische masse bei twitter (und im netz), die sich durchaus sehr einig ist darin, dass “das netz” eine akut bedrohte tierart sei, die morgen aussterben könnte oder, schlimmer, von bösen mächten gemeuchelt werde.
ich weiss, das ist auch diffus und das reichte mit als politikwissenschaftler als totlitär-definition auch nicht. aber: die gefühlte einigkeit, die wucht und die macht, die von einem drohenden shitstorm ausgeht – das hat etwas totalitäres. und zwar in einem medium, das – da gebe ich dir recht – zunächst alles andere als totalitär scheint und es eigentlich auch ist.
ich könnte dir allerdings ein paar sehr reale menschen nennen (politiker, publizisten etc) die sich durch diese drohende tsunamiartige zensur bedroht fühlen – und daher ihre ehrliche meinung im netz nicht äußern.
nur ein beispiel, auch wenn ich manfred spitzer ausdrücklich nicht unterstütze (!): es ist doch seltsam, dass spitzer draußen in der real world die hallen euphotisiert – bei teurem eintritt. und in der virtual world ist er der vollpfosten schlechthin, ein mensch, der wüsteste beschimpfungen bekommt. kleiner tipp: twittere mal zustimmend drei tweets, die den hashtag #spitzer beinhalten und eine seiner krassen thesen (die übrigens nicht alle total abwegig sind) – das wird nicht lustig. nicht diskursiv. nicht kritisch. es wird: ekelhaft.
manche sagen: totalitär
best, christian füller
Hallo Christian,
Ich finde Deinen Kommentar sehr spannend. Hab vielen Dank dafür! Zum ersten finde ich es spannend, dass Dir eine gründliche Lesart des Begriffs „totalitär“ zu akademisch ist. Sieht man mal davon ab, dass man jede halbwegs gründliche Auseinandersetzung (ich sage nicht, dass meine gründlich ist) allzu leicht als „zu akademisch“ abkanzeln kann, verführt der völlig unpräzise Gebrauch von „totalitär“ zu allerhand lustigen und weniger lustigen Spielarten von Extremismustheorien, die einen engen Zusammenhang zwischen linken und rechten Ideologien herbeikonstruieren wollen, oder zu unterkomplexen Pauschalverurteilungen, die nicht das Verständnis eines Phänomens befördern, sondern unter dem Deckmantel des Arguments politisieren wollen. Ich finde es daher schade, dass Du nicht auf meine Kritik an Rönickes implizitem „pars pro toto“-Argument eingehst, sondern es selbst wiederholst: Du schreibst, dass dass sie Recht hat, „aber nur für bestimmte phasen, themen, momente“. Ich habe das selbst eingeräumt, aber zugleich zurückgewiesen, dass das Prädikat „totalitär“, das für lokale Phänomene auf Twitter richtig sein mag, für Twitter insgesamt richtig ist. Insofern schadet es auch für die Möglichkeit lokal-totalitärer Diskursformationen in einem Medium nicht, wenn dies insgesamt nicht totalitär ist. Ich verstehe unter einem totalitären Medium ein Medium, das nur totalitäre Diskursformationen zulässt.
Zweitens lohnt es sich nicht, finde ich, zu wiederholen, dass Shitstorms eklig sein können und es oft auch sind. Dass dieses Phänomen zu für die Betroffenen schlimmen Belastungssituationen führt, liegt so dermaßen auf der Hand, dass ich mich damit eigentlich nicht aufhalten mag. Tatsächlich finde ich spannend, dass Du Shitstorms als den Ausdruck von Meuten beschreibst. Vielleicht ist Dir aber auch der Begriff des Mobs verständlicher: Ein aufgebrachter (Lynch-)Mob bedarf keiner Totalität, sondern wird von einer Affektivität getrieben. Es wird nicht gedacht, es wird nicht inszeniert, sondern es wird ganz basal gehasst. Das ist etwas völlig anderes als die Orwell’sche Situation, in der Hass vom Staatssystem gezielt eingesetzt wird. Mobs und Shitstorms auf Twitter werden nicht von einer planenden Stelle inszeniert, sondern entstehen in einer aufgeladenen Diskurssituation von alleine. Entsprechend wird auch oft die Metapher vom Zündfunken bemüht. Das ist aber nichts totalitäres, sondern etwas völlig fragmentarisches, das autonom vor sich hinwuchert und nicht heteronom einer Regel oder eine Idee unterliegt. Ob die Diskurssituation zurecht aufgeladen ist, spielt für diese Beschreibungsebene erstmal keine Rolle. Es schadet auch nicht für den Begriff des Diskurses, dass er von Hass oder anderen Affektionen getragen wird. Diskurse sind vor allem erstmal Aussagenformationen und damit noch lange nicht notwendigerweise rational.
Nochmal: Ich habe nicht gesagt, dass die Situation auf Twitter rosig ist. Ich habe nur gesagt, dass sie nicht totalitär ist. Nicht alles, was schlecht ist, ist totalitär. Wem das zu akademisch ist, nun, dem kann ich nicht helfen. Dies ist das Blog eines Akademikers.
Liebe Grüße,
Kai
ok, danke. habe ich was gelernt, gerade was diese aus dem bauch kommende, mob-hafte, nicht verabredete meint.
ich finde nur: es sind nicht nur, wie du schreibst, „lokal-totalitärer Diskursformationen“. das verahrmlost. sondern bei bestimmten themen schwappt die zensierende wirkung hinaus in den ganzen medien- und politikbetrieb. da gibt es so etwas wie eine gefühlt-argumentative einheit, die wahnsinnig aggressiv hinausgetragen wird – immer mit dem verweise auf die neue zeit, die jetzt anbricht. siehe etwa die kontroversen themen lsr, sperren/löschen, spitzer, „killergamers erhöhen aggresivität“ usw usf.
ich teile absolut deine beobachtung, dass man das ganze twitter-dings nicht als totalitär qualifizieren kann. aber die begrenzung auf lokale spinnerte momente in bestimmten kreisen, das ist mir echt zu wenig.
es gibt einen grundkonsens, dass z.b. ursula von der leyen „zensurulla“ ist. basta. etwas anderes kannst du im netz praktisch nicht äußern, sonst gibts auf die schnauze, und zwar richtig. da gibt es keine differenzierung mehr. ich kenne leute, die sind sehr stolz darauf, dass dieses thema „sperren“ keiner mehr anfasst. was sind diese leute? die politoffiziere eines partiell totalitären systems?
ehrlich gesagt, ist mir totalitär der falsche begriff. achtung. ich glaube eher, dass es faschistische züge gibt; wieder nicht als wesensmerkmal, nein, aber da treffen doch viele elemente zu sammen: bündelei, aggressiv kämpferisch, sündenböcke suchend, sie ausmerzen wollen, eine hehre neue welt mit ganz neuen menschen, sendungsbewusstsein. also: für bestimmte phasen stimmt das mE.
vielen dank!
beste grüße
Tja, da hat WordPress mit die längliche Antwort geschreddert. Schade. Vielleicht mache ich aus der Antwort die Tage mal einen eigenen Blog-Eintrag.
oh, shit. immer erst real texten, dann virtuell 😉
Hallo Kai,
der Begriff „totalitär“ kommt im eigentlichen Text kein einziges Mal vor, nur in der Unterzeile (oder wie das heißt). Ich halte es für durchaus möglich, sogar für wahrscheinlich, daß die Redaktion diesen Begriff eingefügt hat, um das ganze peppiger zu machen. Nach allem, was ich mittlerweile weiß, „gehören“ Überschriften oft nicht den Autoren, sondern werden nachträglich bearbeitet. Wenn das stimmt, bleibt von Deiner Analyse wenig übrig. Denn aus der Aussage „Twitter ist wie die DDR“ läßt sich das nicht ableiten, es sei denn man hält die DDR für totalitär.
Aber auch sonst weist Katrin Rönicke ausdrücklich darauf hin, daß ihre Erfahrungen stark von ihrer eigenen Filterblase geprägt sein können. Diese Einschränkung halte ich für kritikwürdig. Wenn man die eigene Ansicht in dieser Form einschränkt oder mit einem Warnhinweis versieht, könnte sich der Leser auch fragen, warum die Autorin nicht ein bißchen länger darüber nachgedacht hat. Aber andererseits handelt es sich um einen persönlichen Blogeintrag, nicht um einen wissenschaftlichen Beitrag. Es geht eher darum, die eigenen Empfindungen zu schildern und nachvollziehbar zu machen. Darauf mit dem geballten Theoriepotential eines gerade promovierenden zu zielen erscheint mir ein bißchen unangemessen.
Zufälligerweise hatte ich mich vor einiger Zeit aus Neugier und Interesse in die „Auflösung“ von Maedchenmannschaft.de eingelesen, also einem Teil der Filterblase der Autorin. Bei dem, was ich da gelesen habe, kann ich die Schilderung von Katrin Rönicke nachvollziehen. Leute, von denen man denkt, daß sie im gleichen Team spielen sollten, greifen einen mit einer Heftigkeit an, die verwundert und anstrengt.
Ich kenne das auch, daß ich mir manchen Tweets zu einem bestimmten Thema denke: Laß das mal, ich habe keine Lust, mich mit einem bestimmten Follower auseinanderzusetzen, der dabei nachfragen würde. Ansonsten möchte ich auf diesen Follower nämlich nicht verzichten und will ihn demnächst auch mal persönlich kennenlernen. Man hat ab und zu eine Schere im Kopf, ja.
Ähnliches wie Christian Füller in seinem Kommentar zu Manfred Spitzer schreibt möchte ich für Annette Schavan ergänzen. Als sie zurücktrat, kam in meinen Augen ein Ausmaß an Häme, Haß und Ablehnung bei Twitter hervor, das ich nicht nachvollziehen konnte. Davon ausnehmen möchte ich den einen oder anderen akademischen Twitterer, der sich tief in das Thema eingearbeitet hat und den Fall aus sachlichen Gründen für schlimmer hält als ich und auch besser informiert war als ich (und an dessen Ansicht ich mittlerweile näher herangerückt bin). Aber für eine Menge der Tweets mit dem Hashtag #Schavan galt diese Informiertheit nicht.
Vielleicht liegt die Erklärung für dieses Phänomen in fehlender Lebenserfahrung. Erfahrenen Zeitungsredakteuren, die mit Leserbriefen zu tun haben, ist pöbelnde Kontaktaufnahme noch nie fremd gewesen. Seitdem ich dieses Phänomen bemerkt habeund es wahrnehme, merke ich, daß alle Leute, die sich in irgendeiner Weise exponieren, sei es als lokalpolitisch engagierte, an der Schule oder sonstwo, immer damit rechnen müssen, mit Dreck beworfen zu werden, wenn der eigene Kopf rausguckt. Sei es in Form von Anrufen, durch Briefe oder, in jüngerer Zeit (wenn man computerlose Zeit noch erlebt hat) durch Emails oder Erwähnung an irgendeiner Stelle im Internet.
LG Dieter
Ich hatte hier gestern Abend einen langen Kommentar reingesatellt. Wartet der noch auf Freischaltung oder ist der im technischen Nirwana?
Nun, dann nochmal kurz: Der Begriff „totalitär“ kommt im ganzen Text nicht ein einziges Mal vor, nur in der Unterzeile. Ich könnte mir gut vorstellen, daß der Begriff gar nicht von Katrin Rönicke stammt, sondern von der Redaktion, die den Text eingepflegt und und mit dem Begriff aufgepeppt hat. Soweit ich weiß, werden Überschriften und Zusammenfassungen gerne von Redaktionen verändert.
Geduld ist eine Tugend…
Man kann meine Kritik genausogut an dem inflationären Gebrauch von „Wie in der DDR“ festmachen. Läuft weitgehend aufs gleiche raus.