Gefährliche Texte

Nach langer langer Zeit ist es endlich erschienen:

Denker, Kai: „Gefährliche Texte: Lems Waffensysteme des 21. Jahrhunderts“, in: Friedrich, Alexander et al. (Hrsg.): Kosmos Stanisław Lem. Zivilisationspoetik, Wissenschaftsanalytik und Kulturphilosophie, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2021 (=Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt, Band 36), S. 127–144.

Der Text hat mir viel Spaß gemacht. Umso mehr freue ich mich natürlich, dass er jetzt endlich im Druck vorliegt. Er basiert nämlich auf einem Vortrag von 2017. 🙂

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Topologie der Kontrolle? Mathematisierbarkeit mit Deleuze

Zwischenzeitlich ist meiner Dissertation Topologie der Kontrolle? Mathematisierbarkeit mit Deleuze, die ich am 19. Februar 2018 bereits erfolgreich verteidigt hatte, publiziert worden und als PDF bei TUprints verfügbar.

Kurzbeschreibung:

Deleuze erweist sich in dieser Arbeit als einer der systematischsten Denker des Poststrukturalismus. Übernahmen aus der Mathematik durchziehen seine gesamte Philosophie – eine radikal immanent denkende Prozessphilosophie, die durchgehend um das Problem von Differenz und Wiederholung kreist. Deleuze liefert dabei weder eine Philosophie der Mathematik im Sinne einer Grundlegung, noch soll die Mathematik zur Methode der Philosophie werden. Stattdessen ist sie eine Gegenspielerin der Philosophie: Die Philosophie liefert der Mathematik Widerstände und die Mathematik droht Themen der Philosophie ständig zu vereinnahmen.

Für Deleuze ist Mathematik in erster Linie Differentialrechnung. Diese ist nicht von ihren Anwendungen zu trennen: Biologie, Thermodynamik, Informationstheorie, Linguistik, … und dabei reicht die Perspektive auf die Mathematik von Topologie über Wahrscheinlichkeitsrechnung bis hin zu metamathematischen Problemen. Fluchtpunkt von Deleuzes Untersuchung ist das Problem der Kontrolle. Strukturen, so dynamisch sie auch begonnen haben mögen, altern. Sie verlangsamen sich, werden rigider, steifer, bestimmter und bestimmender. Deleuze sucht in der Philosophie nach Waffen für den politischen Kampf gegen die Kontrolle, deren Griff sich dank Mathematisierbarkeit immer mehr ausweitet. Kurz: Deleuzes radikaler Ansatz lässt sich systematisch bis an die Schwelle dessen entwickeln, was wir heute Algorithmenkritik nennen würden.

Methodisch nimmt die Arbeit dabei eine systematische Rekonstruktion vor, wobei Verbindungslinien zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen bewusst ernstgenommen werden. Die mit ihnen verbundenen Argumente werden entwickelt und gezielt weitergetrieben, um nachzuweisen, dass sie sich systematisch zusammenfügen lassen. Es zeigt sich schließlich, dass sich auf Überlegungen in Deleuzes Spätwerk und den gemeinsam mit Félix Guattari verfassten Texten aus Deleuze früheren Texten entwickeln und ausdeuten lassen: Deleuzes Philosophie erlaubt eine neue, kritische Perspektive auf algorithmische Kontrollregime.

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Strategien des Nichtverstehens

Ich bin in Hubig, Christoph: Dialektik und Wissenschaftslogik. Eine sprachphilosophisch-handlungstheoretische Analyse (Berlin/New York: de Gruyter 1978, hier: S. 5f) auf eine kleine Schelmerei gestoßen: Strategien des Nichtverstehens.

Hubig möchte eine meta-metasprachliche Analyse von Methodenstreits, also metasprachlichen Auseinandersetzungen über die Methoden in jeweiligen Fachwissenschaften, vornehmen und markiert dazu unter jenem Titel einige Kennzeichnen solcher Methodenstreits. Des geht also um Nichtverstehen in wissenschaftlichen Diskurssystemen, aber vielleicht kann man die eine oder andere Idee auch einmal zur Probe (und sei es zum Trollen) im Alltag ausprobieren.

Der Titel jedenfalls ist freilich eine Provokation: Strategien sind immer mit Planung, planvollem Handeln verbunden, so dass eine Strategie des Nichtverstehens immer schon impliziert, dass absichtlich etwas nicht verstanden wird. Das ist die eine Richtung des Genitivs.

Nun kann niemand – letzte Vorbemerkung meinerseits – in einer Diskussion mit dem Satz erfolgreich sein, sie (oder er) wolle nicht verstehen. Verstehen-Wollen und sogar Verständnis müssen mindestens simuliert werden. Das macht es in der anderen Richtung des Genitivs nötig möglich, überhaupt eine positive Strategie zum von vornherein negativen Nichtverstehen zu entwickeln.

Hubig konstatiert drei Strategien:

  1. Übersetzungsstrategien: Man übersetzt die Argumente der Gegner*in in eine (eigene) Sprache, die man als (singuläre) Diskussionsvoraussetzung ausgibt. Dabei setzt man diese Sprache selbst fest. Sie ist also gerade kein gemeinsames Resultat der Streitparteien. Hubigs Beispiel sind „analytische Rekonstruktionen“, die Argumente der Gegner*in in einem ihren Argumenten fremden, formalen Methoden analysiert und so letztlich unter der Vorgabe einer „Rekonstruktion“ einen Strohmann errichtet. Auf diese Weise kann man behaupten, man befasse sich gründlich mit den Argumenten der Gegner*in, hat diese aber längst „wegübersetzt“.
  2. Reduktionsstrategien: Man bekämpft die Argumente der Gegner*in, indem man sie in die eigene Terminologie, die man verteidigen will, überführt und dort auf allgemeinere oder ähnliche Positionen zurückführt oder sie mit diesen kontrastiert. So lassen sich Argumente der Gegner*in beispielsweise als vage oder ungenau denunzieren. Während man in der Übersetzungsstrategie noch eine Rekonstruktion vornehmen, also in der eigenen Terminologie etwas konstruieren muss, reicht es hier aus, die Methode der Gegner*in als schlechten Abklatsch oder als falsche Verwendung desselben auszugeben. Oder man „übersieht“ bei der Reduktion „etwas“, das in der eigenen Terminologie nicht ausdrückbar ist. Methodische Entscheidungen der Gegner*in lassen sich so leicht ignorieren. Und was nicht ausdrückbar ist, das lässt sich noch leichter ignorieren.
  3. Trivialisierungsstrategien: Man beraubt die gegnerische Position ihrer „Spezifik“ (Hubig), etwa indem man nachweist, dass das Argument von einem selbst oder woanders bereits sehr viel präziser, expliziter oder allgemeiner formuliert werden kann. Oder man verweist die gegnerische Theorie in einen vorwissenschaftlichen (oder vorkritischen oder naiven) Bereich, so dass sie zwar nicht als falsch, aber so doch als undeutlich oder undurchdacht erscheint, während man selbst bereit erscheint, die nötige Aufräumarbeit zu leisten.

Die Liste ist sicher nicht vollständig und die drei Strategien sind sicher nicht scharf voneinander abgegrenzt. Die Liste erlaubt aber einen kleinen Witz der Selbstbeobachtung: Wie oft benutzt man selbst diese oder solche Strategien z.B. in einer interdisziplinären Auseinandersetzung? Mir erscheint, ich mache das erschreckend oft.

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Solidarisierungseffekte in der Mitte

Einer der Autoren des Buches „Mit Rechten reden“ lässt wissen:

Wir halten dagegen: Wer sie [die Rechten] so kategorisch ausschliesst, macht sie viel größer, als sie sind und erzeugt zudem Solidarisierungseffekte in der Mitte. Unser Vorschlag: weitgehende Normalisierung der Rechten als Diskursteilnehmer, bei gleichzeitig radikaler Kritik ihres Geltungsanspruchs.

Ein „Rechter“, dessen Kontaktdaten mir bekannt sind, hat vor nicht allzu langer Zeit am Diskurs teilgenommen und mich über eine elektronische Kontaktmöglichkeit wie folgt zum Gespräch geladen:

Sie linker volksverachtender Hetzer! Ihre Fucking Refugees sind zu 90% Schmarotzer und Wirtschaftsflüchtlinge, die unseren Sozialstaat bis zum Exzess schröpfen! Wer dieses Islampack auch noch unterstützt hat nicht alles Tassen im Schrank. Von mir aus kann jeder gottverdammte Kutter abssaufen..

Ich frage mich, welche „Mitte“ sich damit solidarisieren würde und ob es dann überhaupt eine „Mitte“ wäre, bin aber noch sehr viel gespannter darauf, wie die „radikale Kritik [des] Geltungsanspruchs“ so aussehen könnte.

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Notiz zur Dialektik der Buchdeckel

Es sind zwei Bücher vorgestellt worden:

  1. „Mit Rechten reden“
  2. „Mit Linken leben“

Unter Verweis auf das erste halten einige denen, die in ihrer antifaschistischen Haltung die Vorstellung des zweiten gestört haben, mangelnde Dialogbereitschaft entgegen.

Es lohnt sich, für einen Moment ein bisschen Dialektik, nämlich eine Dialektik der Buchtitel, zu betreiben: In einer vielleicht etwas stark vereinfachten Vorstellung von Dialektik treten These und Antithese einander gegenüber und verschmelzen zu einer Synthese, die es erlaubt, zum Allgemeineren, zum Gemeinsamen rückzusteigen und eine erfolgte Festlegung zurückzunehmen.

Wir wollen es uns aber dieser Stelle nicht zu leicht machen und nun einfach das erste Buch als These das zweite als Antithese oder umgekehrt begreifen und eine Synthese unter dem Namen der Dialogbereitschaft, die doch das Gemeinsame beider Seiten markieren müsse, beschwören, sondern in Abrede stellen, dass beide Buchtitel ohne Weiteres zueinander in einem antithetischen Verhältnis stehen können. Suchen wir stattdessen doch zu jedem Buchtitel selbst eine entsprechende Antithese, indem wir einfach die Kontradiktion bilden:

  1. Mit Rechten reden – nicht mit Rechten reden
  2. Mit Linken leben – nicht mit Linken leben

Im ersten Fall ist die Antithese zu der These, man könne, solle, dürfe oder vielleicht auch müsse mit Rechten reden, schlicht, dass man nicht mit Rechten reden könne, müsse, solle oder gar dürfe. Was hier infrage steht, ist also das Gespräch. Man kann es aufnehmen, man kann es aber auch lassen. Die Synthese wäre vielleicht, so trivial sie sein mag, dass eben die Frage, ob man mit „ihnen“ reden soll, umstritten ist. Das ist sicherlich nicht sonderlich spannend. Gehen wir zur zweiten Übung über:

Im zweiten Fall lautet die These, dass man mit Linken leben könne, solle, dürfe oder vielleicht auch müsse. Die Antithese aber, dass man nicht mit Linken leben könne, müsse, solle oder vielleicht dürfe. Was hier infrage steht, ist das Leben. Man kann die Linken töten, man kann es aber auch lassen. Diese These wäre vielleicht, so trivial sie sein mag, dass eben die Frage, ob man die Linken am Leben lassen solle, umstritten ist. Denn wie sollte die Antithese anders dargestellt werden können? Gut, freilich können sich die, die nicht mit Linken leben wollen, können, dürfen oder sollen, auch selbst aus dem Leben befördern, wozu hier ausdrücklich nicht geraten werden soll. Aber davon abgesehen: Dem Titel nach steht hier nicht die Rede, sondern das Leben infrage.

Nebenbei: Freilich wäre es ein Fehler, ein Buch nur nach seinem Einband und also nach seinem Titel beurteilen zu wollen, aber hier geht es nicht um die Bücher insgesamt, sondern nur um deren Titel. Ich glaube jede wird zugeben, dass Buchtitel kein Zufall, sondern Ergebnis einer Überlegung sind. Das mag nicht unbedingt die Überlegung der aus diesem Grund hier ungenannten Autor*innen sein, sondern könnte auch einer Marketing-Abteilung entstammen, aber es wäre damit ebenso abwegig und ein Fehler Buchtitel einfach für nichts zu halten, weswegen ein bisschen Dialektik der Buchtitel (aber nicht der Bücher und vielleicht auch cum grano salis) erlaubt sein muss.

Heißt die Synthese im ersten Fall das Miteinander-Reden und im zweiten Fall das Miteinander-Leben und lassen wir nun diese beiden als These und Antithese einander gegenübertreten, so wird klar: Die Synthese kann nicht die Dialogbereitschaft sein. Die einen überlegen, ob sie reden wollen, die anderen überlegen, ob sie töten wollen. Die Synthese aus beiden ist brutaler: Es ist die Frage danach, ob man wenigstens noch bereit ist, das absolute Minimum gegenseitiger Duldung zu akzeptieren, was nämlich auch dann noch erfüllt ist, wenn man nicht miteinander redet, aber nicht mehr, wenn man nicht miteinander lebt. Es ist daher ein ganz besonders ausgezeichneter Witz, lies: Irrsinn, gerade denen, die sich gegen die Faschisten stellen, mangelnde Dialogbereitschaft vorzuwerfen. Wäre dies kein Irrsinn, so müsste man vielleicht um der Symmetrie willen, die von denen, die diesen Irrsinn so gerne bedienen, so geliebt wird, den Faschisten auch eine mangelnde Bereitschaft vorhalten, aber welche dies ist, sei zur Übung überlassen.

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Einmischerei

A: „Ich finde, Philosoph*innen wie Sie sollten sich wieder mehr einmischen und Stellung zu den Ereignissen in der heutigen Gesellschaft beziehen.“

B: „Okay. Ihre vorhin genannte Position ist – gewiss unabsichtlich – anfällig für faschistische Strategien, weil sie hier der Fiktion erliegen, die bloße Form des Dialo…“

A: „Moment, moment! Einmischen ja, aber doch bitte nicht so!“

B: „Ich werde Ihnen sicher nicht einfach sagen, was Sie hören wollen.“

A: „Na, dann bleiben Sie halt in Ihrem Elfenbeinturm!“

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Weitgehend ausgeprägt…

Nachdem die Frankfurter Buchmesse unter peinlichem Journalismusversagen allzu vieler Medien im Namen irgendeiner Debatte gewisse „neu-rechte“ Positionen normalisieren half, liest man heute in der neuen APuZ (42-43/2017, 16. Oktober 2017) einen Artikel des Hamburger Historikers Volker Weiß unter dem Titel „Faschisten von heute? »Neue Rechte« und ideologische Traditionen“. Der ganze Text, auch wenn ich nicht allen Bewertungen zustimmen würde, lohnt, wie vielleicht schon zwei Zitate zeigen:

Weitgehend ausgeprägt ist die faschistische Form bei den sogenannten Identitären. Sie wurden aus dem Umfeld der Zeitschrift „Sezession“ nach dem Vorbild des französischen Bloc identitaire aufgebaut und stehen inzwischen besonders unter dem Einfluss von österreichischen Kadern wie Martin Sellner. Dieser ist zugleich Autor der „Sezession“ und hat eine einschlägige Vergangenheit: Er sammelte seine ersten politischen Erfahrungen im Kreis um den österreichischen Neonazi Gottfried Küssel. [S. 7]

Sowie:

In diesem Sinne [gemeint ist die Verbindung zum Denken des italienischen Faschismus –KD] kann vor allem der harte Kern um das IfS [Institut für Staatspolitik] durchaus in der Tradition des Faschismus gesehen werden. [S. 9]

Wem hatte die Buchmesse da noch gleich eine Bühne gegeben? Waren das nicht der genannte Martin Sellner, der Mitbegründer des Instituts für Staatspolitik Götz Kubitschek, der ebendort über „Reproduktionsstrategien“ referierte Björn Höcke und die sich zur Identitären Bewegung zählende und in Kubitscheks Verlag veröffentlichende Caroline Sommerfeld?

Es drängt sich doch die Idee auf, man sollte der Buchmesse die APuZ empfehlen – das wäre sicher ein spannender und interessanter Beitrag zur… Debatte.

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Vielleicht ist der Kampf vorbei

Vielleicht ist es an der Zeit, zuzugeben, dass wir den Kampf gegen den Faschismus bereits wieder verloren haben. Damit ist freilich nicht gesagt, dass wir bereits in einer faschistischen Gesellschaft leben, also einer Gesellschaft, in der der Faschismus jeden Winkel besetzt hat und noch den Staat übernommen hat, um ihn, wie Deleuze sagt, zum Selbstmord zu treiben. Das bedeutet aber auch nicht, dass der Faschismus noch nicht da ist, denn schließlich wurde auch die deutsche Gesellschaft nicht erst Ende Januar 1933 faschisiert, sondern war es in erheblichen Teilen bereits vorher, sonst hätte man den Postkartenmaler gar nicht erst ins Amt befördert. Die Übernahme der Regierungsgewalt ist schließlich nicht der Beginn eines gesellschaftlichen Prozesses, sondern allenfalls einer ihrer Höhepunkte.

Wenn ich also frage, ob wir den Kampf bereits verloren haben, dann ist damit gemeint, ob bereits ein Prozess stattfindet, der unweigerlich zu einer erneuten Machtübernahme der Faschisten führen wird, wobei wir allenfalls noch kleinere Verzögerungen oder minimalste Korrekturen erreichen könnten, die für das, was uns dann bevorsteht, keine Rolle mehr spielen werden. Wer vom Dach eines Hochhauses springt, ist auch nicht tot, bevor er unten aufschlägt, kann noch im Fall sich aber bereits über die Unausweichlichkeit dieses Schicksals im Klaren sein.

Woran könnte man sehen, dass dieser unaufhaltsam Prozess zum Faschismus bereits im Gange ist und wir einen „Point of No Return“ erreicht und überschritten haben? Ein deutliches Kriterium wäre vielleicht, ob wir noch in der Lage sind, auf die vielen kleinen Schritte, die am Ende zum Faschismus führen werden, Einfluss zu nehmen. Der Faschismus kommt nicht mit einem Knall, sondern er schleicht sich langsam an, wie etwas, was in vielen kleinen Schritten vergiftet, vielleicht wie ein Krebs, der mit einer Zelle beginnt, die sich immer weiter teilt.

Wenn wir dieses Kriterium akzeptieren, dann sind wir bereits verloren: Offenbar funktioniert keines der politischen, rechtlichen, moralischen oder zivilgesellschaftlichen Sicherungssysteme, von denen wir uns nach 1945 eingeredet haben, sie würden einen zweiten Faschismus in Deutschland verhindern können. Der Einwand, dass der Faschismus eben noch nicht so radikal geworden sei, dass die Sicherungsmechanismen etwa des Grundgesetzes, um einmal sehr weit zu gehen, bereits eine Rolle spielen müssten, übersieht, dass auch diese Mechanismen ihrerseits Voraussetzungen haben, die durch die Ausbreitung des Faschismus erodieren. Abstrakt könnte man dies vielleicht am Problem der Auslegung von Regeln sehen, da das Auslegen von Regeln seinerseits auf Regeln verweist, so dass letztlich auch rechtlich definierte Grenzen des Sagbaren oder des Machbaren nur durch eine Auslegung auf den Einzelfall hin zu konkretisieren sind, was dabei seinerseits auf Regeln verweisen muss, die kein Teil des Rechts sind. Konkreter könnte man vielleicht ein Bundesland wie Sachsen nehmen, in dem vielleicht auf dem Papier alles mit rechten Dingen zugeht, unzähligen Pressemeldungen nach in der Praxis aber nicht. Nicht ohne Grund fragt man: Warum immer wieder Sachsen? Diese Frage kann nur der stellen, der glaubt, dass es mit der Verrechtlichung getan sei.

Die rechtlichen Sicherungsmechanismen gegen den Faschismus kommen also zu spät, was solange zu entschuldigen ist, wie andere Mechanismen in ihrem Vorfeld die Erosion ihrer Voraussetzungen verhindern. Das Recht besteht schließlich nur an seiner Oberfläche aus Normen, ist darunter aber das Resultat eines nur deskriptiv zu verstehenden Normierungsprozesses, an dessen Bruchstellen noch etwas wie ein Rechtsempfinden der Bevölkerung, also eine Deskription par excellence, durchscheint. Wer es noch deutlicher haben möchte, schaue in Urteilen des Verfassungsgerichts nach dem Begriff des gesellschaftlichen Wandels.

Hier stoßen wir, nebenbei bemerkt, auf einen Effekt, der überraschenderweise bisher übersehen wurde: Wenn die rechtlichen Sicherungsmechanismen gegen den Faschismus nämlich immer zu spät kommen, dass andere Sicherungsmechanismen vorher eingreifen müssen, um die Erosion der Voraussetzungen der rechtlichen Sicherungsmechanismen zu verhindern, so dürfen die anderen Sicherungsmechanismen nicht nach dem Bild der rechtlichen Sicherungsmechanismen ausgelegt werden. Wenn es beispielsweise die Aufgabe einer öffentlichen Moral ist, faschistische Hetzreden etwa durch soziale Exklusion zu sanktionieren, also noch bevor diese als Volksverhetzung strafbar werden, dann kann die Straflosigkeit einer faschistischen Hetzrede kein Argument gegen eine moralische Empörung gegen sie sein. Schränkt man nämlich die anderen Sicherungsmechanismen auf die Reichweite der rechtlichen Sicherungsmechanismen ein, gestattet man die moralische Sanktion also im Beispiel nur dort, wo die rechtliche Sanktion bereits eintritt, schneidet man jenen die Rolle ab, die Erosion der rechtlichen Sicherungsmechanismen zu verhindern. Politische, moralische und zivilgesellschaftliche Sicherungsmechanismen müssen aber, wie gesehen, über die rechtlichen Sicherungsmechanismen hinausgehen und ihnen zuvorkommen, um ihre Rolle erfüllen zu können. Damit spielt jeder, der das Recht zum alleinigen Kriterium gegen eine faschistische Hetzrede macht, den Faschisten in die Hände.

Damit haben wir also vielleicht ein abstraktes Kriterium, um festzustellen, ob wir den Faschismus noch verhindern können, und wir haben einen möglichen Aspekt einer Erklärung, warum bestimmte Mechanismen, also solche jenseits der rechtlichen Sicherungsmechanismen gegen den Faschismus, augenscheinlich nicht mehr funktionieren. Wir sollten aber noch konkret machen, dass diese Sicherungsmechanismen jenseits des Rechts nicht mehr funktionieren: Das deutlichste ist vielleicht die Wahnvorstellung, man müsse mit Nazis reden. Man müsse ihnen eine Bühne, eine Plattform geben, den Dialog suchen, sich ihre Argumente anhören, ja, ihre Sorgen ernst nehmen und um sie als vernünftige Menschen kämpfen. Dass dies auf abstrakter Ebene bereits ein Fehler ist, da der Dialog mit Faschisten niemals symmetrisch sein kann, habe ich an anderer Stelle diskutiert. Hier soll es noch darauf ankommen, an die vielen Plattformen zu erinnern, die den Faschisten gegeben werden, während sämtliche moralische Empörung gegen die Faschisten und gegen die, die ihnen die Bühne bereiten, zurückgewiesen wird. Dass die Faschisten auf der Frankfurter Buchmesse ein Klassentreffen machen konnten, ist einzig die Verantwortung derer, die die Frankfurter Buchmesse ausrichten und die im Vorfeld sich auf die Meinungsfreiheit beriefen, also die moralische Empörung mittels Verweis auf das Recht zurückwiesen. Dass es aber letztlich zu Gewalt führt, wenn man mit Faschisten einen Dialog führen möchte, das hätte man auch vorher wissen können. Die Veranstalter der Frankfurter Buchmesse wollten es wohl noch einmal deutlich aufs Brot geschmiert bekommen: Das Ergebnis des Dialogs mit Faschisten ist deren Monolog und dieser ist am Ende immer gewalttätig.

Es ist nicht nur eine Institution wie die Buchmesse, die den Faschisten damit in die Hände spielt, sondern es sind auch die Journalisten, die Reden, denen früher blanke Empörung entgegengeschlagen wäre, immer wieder Fläche geben, aber dabei so tun, als handele es sich nur um einen weiteren Standpunkt, der in irgend einer Art von Symmetrie neben anderen, nicht-faschistischen Standpunkten vorzutragen und abzuwägen sei – zumindest sofern wir uns einmal an die bequeme, aber irreführende und falsche Fiktion halten wollen, in derartigen Formaten eine Abwägung zu sehen. Es ist aber nicht nur die Mode einiger Journalisten, immer wieder die Faschisten einzuladen und sie ausgiebig zu Wort kommen zu lassen, als sei es selbstverständlich, dass Faschisten Teil des politischen Meinungskampfes sind, sondern es sind auch die Journalisten, die durch eigenes Schreiben oder durch Duldung derartig einseitiger Darstellungen zugunsten der Faschisten diesen so sehr den Boden bereiten, dass man darin längst einen Fall für den Presse- und Rundfunkrat sehen möchte. So veröffentlichte beispielsweise der Deutschlandfunk Kultur mit Blick auf die Frankfurter Buchmesse einen Text, der dem Stil und der Ausgewogenheit nach problemlos in einer Nazi-Postille hätte erscheinen können.

Mehr noch: Es sind nicht nur die Journalisten, die in ihrer Aufgabe völlig versagen, was in Anbetracht der Macht der Medien als Filter für Nachrichten zweifelsohne eine Katastrophe ist, sondern es sind auch die vielen kleinen Momente, in denen ganz einfache Bürger, betrunken vom Glauben an das bessere Argument und benebelt von der Illusion einer Symmetrie zwischen Faschismus und Nicht-Faschismus, denen, die gegen den Faschismus sprechen, in den Rücken fallen und noch den Opfern des Faschismus selbst eine Schuld an eben diesem geben wollen. Wir gelangen dann nicht nur zu einigermaßen bizarren Aktionen, in denen wir allen ernstes nett zu Faschisten sein sollen, sondern auch die Kritik daran, dass den Faschisten überhaupt eine Plattform gegeben wird, wird als eine Beleidigung (übrigens der Journalisten und manchmal auch der Faschisten selbst) ausgelegt, während die Faschisten und ihre Freunde nicht nur unbehelligt, sondern auch noch unter Applaus weitermachen dürfen. Kurz: Offensichtlich dringt die Empörung gegen den Faschismus bereits auf mikroskopischer Ebene nicht mehr durch. So können auch Anhänger der meines Erachtens offensichtlich faschistischen, da sich beispielsweise auf Julius Evola berufenden „Identitären Bewegung“ ohne Widerstand und ohne Kritik auftreten und nicht-faschistische Bürger beschimpfen. Man stelle sich einmal vor, 2002 hätte jemand im Rundfunk so getan, als ob der Faschismus bloß eine weitere Meinung sei.

Es ist also naiv, anzunehmen, man könnte den Faschismus noch verhindern, wenn bereits die kleinen einfachen Sicherungsmechanismen gegen den Faschismus auf mikroskopischer Ebene, etwa in einzelnen kleinen Gesprächen, bereits versagen und es bereits nicht einmal mehr möglich ist, einem Gegenüber, das zwar darauf besteht kein Faschist zu sein, wenigstens noch ein grundsätzliches und auch nur halbwegs ernst gemeintes Bekenntnis gegen den Faschismus abzuringen. Die Behauptung, man sei kein Nazi, aber … ist gerade kein solches Bekenntnis – im Gegenteil.

Wo sind die kleinen, mikroskopischen Siege gegen den Faschismus, an denen sich die Behauptung, man könne seinen Sieg noch verhindern, rechtfertigen lassen? Wo ist man in den letzten Jahren gegenüber dem Faschismus nicht zurückgewichen? Wo gab es mehr als einen allenfalls symbolischen Sieg? Wo hat ein „Bis hierher und nicht weiter!“ oder ein „Wehret den Anfängen!“ stattgefunden und gehalten? Sicher, es gibt all die vielen kleinen Ecken und Zonen in einer Gesellschaft, die noch nicht faschisiert sind, aber sind sie es vielleicht nur deshalb nicht, weil die Faschisten es dort noch nicht ernsthaft versucht haben? Es ist schwerlich ein Argument gegen die Gefährlichkeit unserer Situation, dass irgendeine traditionell linke Organisation noch nicht dem Faschismus zum Opfer gefallen ist.

Was also tun? Wenn die Diagnose, die ich hier in einigen groben Zügen vorgetragen habe, stimmt, verbleiben drei Möglichkeiten: Erstens könnten wir neue Mittel gegen den Faschismus finden, die noch wirken, was aber allenfalls Glück wäre. Und nur ein Narr würde sich in höchster Gefahr auf sein Glück verlassen. Zweitens könnten wir darauf setzen, dass auch der Faschismus von heute nur eine Mode ist, die sich bald müde laufen wird. Das wäre aber allenfalls naiv, gerade da durch die Wahlerfolge rechtsextremer Parteien die Protagonisten der faschistischen Szene nun auf Jahre hinaus staatlich und damit fürstlich alimentiert werden und also ihre Aktionen noch ausdehnen können. Oder drittens könnten wir zugeben, dass wir versagt haben und uns einen Fluchtplan überlegen. Denn man soll nicht vergessen, dass uns diesmal die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und all die anderen Staaten, die bei dieser Aufzählung so gerne vergessen werden, wohl nicht von Faschismus befreien werden – und selbst wenn: Als das, was 1945 noch Deutschland war, von Faschismus „befreit“ wurde, waren nur noch die übrig, die die Faschisten nicht umgebracht hatten.

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Notiz zur Frankfurter Buchmesse 2017

Vom Dialog mit Faschisten zum Monolog der Faschisten ist es nur ein winziger Schritt.

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Deutschlandfunk Kultur scheint auf dem rechten Auge blind

Ich habe mir erlaubt, die folgende E-Mail an das Deutschlandradio zu schicken:

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich muss sagen, ich wundere mich: Sie haben mich gerade auf Facebook von der Seite von Deutschlandfunk Kultur gesperrt, nachdem ich einen Artikel, in dem sie Rechtsextremisten und ihre Taten auf der Frankfurter Buchmesse verharmlost, ja unterschlagen haben, kritisiert habe. Gleichzeitig haben sie Beleidigungen von AfD-Mitarbeitern gegen meine Person – beispielsweise wegen meines Körpergewichts [siehe Bild] – stehen lassen. Da Sie einerseits es nicht für nötig erachtet haben, Gewalt gegen Bürger, darunter auch Stadtverordnete aus Frankfurt, zu kritisieren, aber andererseits Angriffe seitens AfD-Mitarbeitern weit unter der Gürtellinie offenbar für unproblematisch halten, kann ich daraus nur mit großem Schrecken und Widerwillen schließen, dass der Deutschlandfunk Kultur sich nun dazu entschieden hat, das Geschäft der Rechtsextremisten zu erledigen. Schließlich nennen Sie im besagten Artikel ohne weitere Einordnung Besucher der Frankfurter Buchmesse, die Beschimpfungen gegen angebliche Linke kommentiert haben, in einem undistanziert wiedergegebenen Zitat „Linksextremisten“, behaupten, es habe seitens rechtsextremistischer Verlage Gesprächsangebote gegenüber den Linken gegeben, erwähnen aber mit keinem Wort die von den Anhängern dieser rechtsextremistischen Verlage ausgehende Gewalt gegen Verleger, Stadtverordnete, Journalisten und andere Besucher der Frankfurter Buchmesse. Wenn Sie sich davon beleidigt fühlen, dass ich geschrieben habe, dass Sie sich für diesen Artikel schämen sollten, dann tut es mir sehr leid, aber ich kann davon nichts zurücknehmen: Denn Sie sollten sich dafür schämen, dass Sie einen so einseitigen Artikel, der auch noch Gewalt unterschlägt, veröffentlicht haben. Dass Sie einen Bürger, der dies kritisiert, sperren, während sie Angriffe auf dessen Person stehen lassen, sagt sehr viel über Sie aus und leider muss ich Ihnen für den Fall, dass Sie nicht wissen, was es über Sie aussagt, mitteilen, dass es nichts Gutes ist. – Möglicherweise handelt es sich aber auch um ein Missverständnis, sie führen ein Gespräch mit dem Mitarbeiter, der Ihre Facebook-Seite betreut hat, entsperren mich dort wieder und gehen zu einer differenzierten Berichterstattung über die von Rechtsextremisten auf der Frankfurter Buchmesse verübte Gewalt über. Schließlich sind wir alle Menschen und so ist es durchaus möglich, dass wir Fehler machen. Es gilt aber: Wer einen Fehler begeht, ihn aber nicht korrigiert, der begeht einen zweiten. Ich würde mich freuen, wenn Sie keine zweiten Fehler begehen würden.

Ich erlaube mir, diese E-Mail zu veröffentlichen.

Da ich Deutschlandfunk Kultur immer sehr gerne gehört habe, verbleibe ich trotz dieses ausgesprochen unerfreulichen Ereignisses mit freundlichen Grüßen,

Kai Denker

 

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