Trigger-Warnung: Es geht im Folgenden um Homo- und Transphobie, Hass, Depressionen, Gleichgültigkeit und Suizid.
Jede Person, die in den letzten vier Jahrzehnten nicht unter einem Stein gelebt hat, sollte auf die eine oder andere Weise mit performativen Sprachtheorien in Berührung gekommen sein. Sollte – denn es scheint noch immer erklärungsbedürftig, was Austin (1962, dt. 1972), Searle (1969, dt. 1971) oder in neuerer Zeit beispielsweise Butler (1997, dt. 1998) beschrieben haben: Sprache ist nicht einfach informativ, sondern grundsätzlich auch performativ. Dieser Satz hat es mittlerweile, über einen kommunikationspsychologischen Umweg durch Watzlawick und Schulz von Thun, in die Unterrichtsmaterialien der gymnasialen Oberstufe geschafft: Neben einem Sachinhalt hat eine sprachliche Äußerung stets auch einen Beziehungsinhalt, eine Selbstoffenbarung und einen Appellcharakter. Die genannten Theorien entscheiden sich alle in wichtigen Überlegungen, stimmen aber alle in einem wesentlichen Punkt überein: Sprache hat Handlungsmacht. Eine Richterin, die einen Angeklagten verurteilt, informiert ihn nicht, sondern sie verurteilt, indem sie das Urteil spricht. Ein Standesbeamter informiert nicht über die Heirat, sondern er verheiratet, indem er die Verheiratung erklärt. Eine Lehrerin informiert sich nicht, wenn sie Vokabeln abfragt, sondern sie kontrolliert, indem sie Befehle erteilt. Ein Troll informiert nicht über eine Beleidigung, sondern er will beleidigen, indem er eine Beleidigung ausspricht. – Gewiss, wir haben es hier mit sehr heterogenen Beispielen zu tun, die teils auf ein rechtliches Gefüge (Richterin, Standesbeamter), teils auf ein Herrschaftsgefälle (Lehrerin), teils auf einen inneren psychischen Zustand zielen (Troll), aber in allen Fällen handelt es sich nicht um die Übertragung einer Information, sondern um eine Handlung, die in Sprache stattfindet und die auf eine Veränderung zielt: Die Veränderung eines rechtlichen Status, die Unterwerfung unter eine Leistungskontrolle, die Erschütterung einer emotionalen Verfassung. Weinende Angeklagte mag so manche_r aus Filmen kennen, Frust über verpatzte Vokabeltests vielleicht am eigenen Leib und wer einmal an einen Troll geraten ist, der einen wunden Punkt erwischte, muss ohnedies nicht weiter über diese Sachverhalte aufgeklärt werden. Wie seltsam subtil diese emotionalen Trigger sein können, können sogar Maskulinisten erkennen, die es in diesem Text bis an diese Stelle geschafft haben: „manche_r“ enthält praktisch keine Information für den Sachinhalt und reicht doch, dass so mancher Mann regelrecht rot sieht.
Wenig überraschend inspirierte dieses Wissen eine Kultur der Trigger-Warnungen. Es gibt Menschen, die bei (für sie) heiklen Wörtern, bei (für sie) heiklen Themen eine emotionale Reaktion haben – selbst dann, wenn diese nicht von Sprecherin oder Schreiberling beabsichtigt wurde, so dass es sich immer mehr einbürgert, bei solchen Themen vorab zu warnen. Sprache kann verstören, zumal Menschen, deren emotionale Stabilität aus welchen Gründen auch immer gefährdet sein mag.
Journalist_innen wissen das eigentlich: Die Pressekodizes vieler Journalistenverbände gebieten eine Zurückhaltung bei Themen, die im Verdacht stehen, Menschen unnötig zu destabilisieren. Namentlich beim Thema Suizid: Obzwar nicht gänzlich unumstritten, akzeptieren die meisten Journalist_innen die Möglichkeit eines Werther-Effekts – schon der Bericht über Suizid kann eine Suizidwelle auslösen oder beschleunigen. Dass es diese Zurückhaltung gibt, zeigt sich bereits daran, dass in der Europäischen Union jedes Jahr mehr Menschen durch Selbsttötung als durch Verkehrsunfälle ihr Leben verlieren. Während aber die mediale Berichterstattung kaum über Suizide berichtet, vergeht kein Tag ohne Meldungen über tödliche Verkehrsunfälle. Es ließen sich weitere Beispiele finden, dass schon die mediale Berichterstattung, also letztlich das Lehrbuchbeispiel einer idealerweise interesselosen Information, Handlungskraft bis hin zur Begünstigung oder gar Verursachung von Selbsttötungen entfalten kann. Es zeigt sich: Sprache kann (indirekt) töten.
Es scheint gleichwohl klar und plausibel, zumindest weisen verschiedene Statistiken und Studien darauf hin, dass die meisten Menschen, die durch Sprache sogar noch in ihrem Lebenswillen angegriffen werden können, Symptome einer Depression aufweisen. Es geht mir hier nicht um eine Kritik an der gesellschaftlichen Rezeption des Krankheitsbildes „Depression“, sondern ich möchte das Prädikat „depressiv“ als einen argumentativen Angelpunkt verwenden. Wir wissen, dass depressive Menschen eine höhere Selbsttötungsgefährdung haben als nicht-depressive Menschen. Wir wissen, dass depressive Menschen eher emotional instabil sind und wir wissen, dass emotional instabile Menschen sich schlechter dagegen schützen können, durch Sprache „getriggert“ zu werden. Wir können uns also wohl den Schluss erlauben, dass depressive Menschen eine größere Gefährdung haben, dass Sprache sie (indirekt) tötet.
Wir wissen aus vielen Studien, dass lsbtiq-Jugendliche häufiger Suizid versuchen oder begehen als heterosexuelle Jugendliche. Die Ursache hierfür im wenig auf Akzeptanz gerichteten schulischen, kirchlichen oder leider auch oft familiären Umfeld zu sehen, dürfte allen billig und gerecht denkenden Menschen sofort plausibel sein, auch wenn sie von offen homophober Seite bestritten wird. Es ist mag überaus ekelhaft und heuchlerisch sein, selbst zu einem Missstand nach Kräften beizutragen, um dann diesen Missstand als Argument für die eigene Beförderung des Missstandes heranzuziehen, aber für mein materiales Argument ist das hier eher unerheblich: Die höhere Suizidalität unter lsbtiq-Jugendlichen wird nicht einmal von homophober Seite bestritten. Da wir nun wissen, dass depressive Menschen eine erhöhte Suizidalität aufweisen, dürfen wir schließen, dass lsbtiq-Jugendliche öfter depressiv sind als heterosexuelle Jugendliche. Das ist also ein unbestrittenes empirisches Faktum und namentlich Frau Maischberger wurde hierauf im Vorfeld ihrer Sendung offensichtlich deutlich hingewiesen. Ihre Redaktion hätte dazu schließlich nur die Texte ihrer homophoben Gäste zur Kenntnis zu nehmen brauchen. Die Unterstellung, ihre Redaktion betriebe diese Form der Recherche, bitte ich mir nachzusehen. Kurz, wir dürfen annehmen, dass Sandra Maischberger weiß, dass lsbtiq-Jugendliche häufiger depressiv und stärker suizidgefährdet sind als heterosexuelle Jugendliche. Wir müssen nun aber schließen, dass lsbtiq-Jugendliche eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, dass Sprache sie (indirekt) tötet.
All dies hat Sandra Maischberger aber nicht davon abgehalten, Gäste in ihre Talk-Show einzuladen, die nicht für ihre sachliche Diskussion – sofern man das Bestreiten der Menschenwürde ganzer Bevölkerungsteile überhaupt sachlich diskutieren kann – bekannt sind, sondern für ihre emotionalisierte Polemik und ihren Hass. Sandra Maischberger musste also annehmen, ihre Gäste würden auf eine Art und Weise über Homo- oder Transsexualität reden, die geeignet ist, depressive lsbtiq-Jugendliche zu „triggern“, so dass es wenigstens wahrscheinlicher würde, dass diese nach dem Ansehen ihrer Sendung einen Selbsttötungsversuch unternehmen. Hier herrscht sicher kein Determinismus, aber die Verschiebung der Wahrscheinlichkeit ist offenkundig und was wahrscheinlicher ist, realisiert sich trivialerweise mit einer höheren Wahrscheinlichkeit. Es ist also durchaus möglich, dass am heutigen Tage ein Mensch nicht mehr lebt, der noch leben würde, hätte Sandra Maischberger nicht ihre Quote über die Menschenwürde gestellt. Selbst wenn es nicht so ist, was ich sehr hoffe, hat sie, so sie nicht völlig blind ist, den Eintritt dieses Sachverhalts im Eigeninteresse billigend in Kauf genommen. Stellte sie das Eigeninteresse nicht über die Würde anderer Menschen, hätte sie nicht die übelsten Scharfmacher der Debatte eingeladen.