Seit einigen Jahren wird die Diskussion, ob die sexuelle oder geschlechtliche Identität eines Menschen nun biologisch determiniert oder sozial konstruiert sei, schriller: Zwei schwarz-weiße Meinungen stehen sich unversöhnlich gegenüber und die Protagonist*innen dieser Diskussion nerven, wenigstens mich, damit wahnsinnig. Kann man die Diskussion bitte beenden? Die Antwort ist nämlich überaus einfach:
Sexuelle oder geschlechtliche Identität ist sowohl biologisch determiniert, als auch sozial konstruiert. Es ist ein Gemisch. Was ist daran bitte so schwer zu begreifen?
Natürlich gibt es biologische Faktoren, die sich durch Dekonstruktion, Reflexion, Analyse, Diskussion und Emanzipation nicht verändern lassen. Penis und Hoden werden dadurch ebenso wenig wachsen wie wie eine Gebärmutter nebst Eierstöcken auf den Plan treten. Ebenso unterscheiden sich Menschen hinsichtlich ihrer Hormonhaushalte, ihrer Körperbehaarung, ihrer Bindegewebsstruktur, … – es gibt hier echte, wirksame und nur schwer veränderbare Faktoren und natürlich gilt es, dass wir unsere Körper vorfinden und irgendwie mit ihnen fertig werden müssen.
Dass wir aber überhaupt mit unseren Körpern fertig werden müssen, das ist ein soziales Konstrukt: Die Behauptung, dass es biologische Faktoren gibt, ist vollständig kompatibel mit der Behauptung, dass die Zuordnung der biologischen Faktoren zu genau zwei Geschlechtskategorien die Realität biologischer Faktoren falsch darstellt und dass hieraus gezogene Folgerungen bestenfalls kontingent sind. Dass es einen Unterschied zwischen der Struktur realer Sachverhalte und der in unseren Theorien dargestellten Sachverhalte geben kann und in der Regel auch gibt, ist eine so triviale Aussage, dass wohl nur religiöse Fanatiker*innen daran einen sinnvollen Zweifel haben können. Letztlich ist es aber die Biologie, die Medizin und ihre jeweiligen Teildisziplinen selbst, die eine ganze Menge Faktoren benennen können, die die Behauptungen von der Geschlechtsbinarität Lügen strafen. Man mag sich allenfalls darauf einlassen, dass es in einem Kontinuum von Eigenschaften, die biologisch determiniert sind, Kombinationen gibt, die häufiger sind als andere. Tatsächlich korreliert eine bestimmte Form des Haarausfalls mit dem Vorhandensein von Hoden. Ja und?
Wir haben es also offenbar mit einem unglaublich langweiligen Problem zu tun: Das Medium realer Körperlichkeit kennt Faktoren, die durch das Medium gedachter Körperlichkeit nicht (vollständig) dargestellt werden. Die Vorstellung, es gäbe genau zwei Geschlechter, ist aber nun genau dieses: eine Vorstellung, d.h. sie findet im Medium gedachter Körperlichkeit statt und dies ist der Ort einer sozialen Konstruktion. Erstens ist dieses Medium der Vorstellung nämlich nicht individuell, sondern – allein aufgrund seiner sprachlichen Verfasstheit – kollektiv. Ohne den Zusammenhang von Sprache und Vorstellungsvermögen diskutieren zu wollen, darf nicht übersehen werden, dass Sprache stets etwas kollektives ist, das als eine Art – Achtung: Metapher – wabernde Mannigfaltigkeit von allen Teilnehmer*innen an einer Sprache geteilt, aber jeweils unterschiedlich aktualisiert wird. Derartige, gemischte Zustände sind in den Geisteswissenschaften übrigens recht gut untersucht und verstanden. Es handelt sich um Diskurse oder in der von mir bevorzugten Sprache um kollektive Äußerungsgefüge. Die formalen Wissenschaften können das auch untersuchen, sofern sie sich nicht aus bloßer Sturheit anstellen und an einem wirren Kryptoplatonismus festhalten wollen, aber zurück zum Problem: Zweitens bestimmt das Medium der Vorstellung, wie überhaupt konkrete Theorien geformt werden – sowohl hinsichtlich der Möglichkeit ihrer Form, als auch hinsichtlich der Wahrscheinlichkeiten ihrer Inhalte: Das kollektive Äußerungsgefüge macht gewissermaßen Vorschläge, wie ein äußeres Medium in der Reflexion zu ordnen ist. Wenn es also in Binaritäten organisiert ist, ist die Wahrscheinlichkeit, Unterschiede im äußeren Medium als Binaritäten zu organisieren, um einiges größer.
Das wäre alles kein soziales, sondern allenfalls ein wissenschaftlich-methodisches Problem, würde sich es auf die Wissenschaft beschränken und sich nicht in einer großen Zahl offensichtlich nicht-biologischer Felder aktualisieren: Es besteht absolut kein logischer Zusammenhang zwischen der Form der körperlichen Verfassung und Verortung der Gonaden und dem Kleidungsstil. Tatsächlich benötigen Hoden ein etwas kühleres Klima und sollten nicht eingeklemmt werden, während die im Inneren des Körpers liegenden Eierstöcke diese biologisch-medizinische Randbedingung nicht zu haben scheinen. Nun, tragen etwa Hoden-Besitzer*innen Röcke? Nein? Och…
Den Zusammenhang zwischen getrennten Toiletten, verschiedenen Kleidungsstilen, unterschiedlichen Einkommen, anderen Fahrradrahmen… mit Verfassung und Verortung der Gonaden plausibel zu machen, dürfte ein eher schwieriges Problem werden: Jede Hoden-Besitzer*in, die einmal Bekanntschaft mit der Querstange gemacht hat, dürfte nachvollziehen können, dass dieses Design vermutlich keine so sonderlich gute Idee gewesen ist. Wenn es hier einen biologischen Zusammenhang geben sollte, hätte uns die Natur wenigstens äußerst übel mitgespielt…
Der Verweis auf die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit verweist nun genau auf diese Fallstricke einer Praxis. Die Diagnose, dass etwas „sozial konstruiert“ sei, bedeutet nicht, dass es aus dem Nichts heraus erfunden wurde und dem Konstrukt keinerlei Sachverhalte in der Realität entsprechen. Die Diagnose bedeutet, dass die Vorstellung mit gegenüber den realen Sachverhalten kontingenten Prädikaten angereichert wurde und damit gegenüber einer Minimaltheorie überschüssig ist. Die Diagnose ruft damit letztlich das Ockham’sche Rasiermesser auf: entia non sunt multiplicanda sine necessitate. Die Relation zwischen Verfassung und Verortung der Gonaden und dem zugeordneten Kleidungsstil ist genau so eine unnötige Vervielfachung. (Wer nun darauf verweist, dass Relationen keine Entitäten sind, darf die gesamte Literatur der Spätscholastik auf Lojban übersetzen.) Ich möchte sie daher als „Scheinrelation“ bezeichnen. Scheinrelationen nenne ich Relationen, die nicht einen realen Sachverhalt repräsentieren, sondern sich bloß aufgrund ihrer Position im kollektiven Äußerungsgefüge und damit letztlich selbstreferentiell behaupten.
Die Praxis interessiert sich natürlich wenig für wissenschaftsphilosophische Sparsamkeitsprinzipien, sondern sie produziert Gewohnheiten, in denen kontingente Zusammenhänge festfrieren. Ein schönes Beispiel wäre vielleicht, die Schrift, in der Sie gerade diesen Text lesen: Es gibt absolut keinerlei logische Notwendigkeit dafür, dass das Graphem des Buchstabens „a“ so aussieht, wie es eben aussieht. Würde ich stattdessen aber konsequent ein Graphem setzen, das vielleicht wie das Graphem „α“ aussieht, würden Sie es wohl als falsch empfinden. Sie werden aber wohl zugeben, dass es sich dabei um eine bloße Gewohnheit handelt. Die einzige logische Notwendigkeit, die hier zu finden ist, ist die, überhaupt eine Darstellungsweise wählen zu müssen. Dass es eine Darstellung geben muss, ist für die Schriftsprache eine logische Notwendigkeit, aber wie diese Darstellung aussieht, ist eine Gewohnheit, die nicht selten als Konvention bezeichnet wird.
Nicht grundsätzlich anders operiert das sozial-biologische Sex-Gender-Konstrukt: Es gibt ein Feld durchaus biologischer Notwendigkeiten, etwa dass nur Gebärmutter-Besitzer*innen in der Lage sind, schwanger zu werden, oder sich wenigstens einige Jahre regelmäßig mit der Mensis plagen müssen. Es gibt aber ebenso und vermutlich noch mehr sozial konstruierte Kontingenzen, die allenfalls Gewohnheiten sind, etwa dass Gebärmutter-Träger*innen keine Querstange am Fahrrad haben.
Die Frage ist also natürlich nicht, ob die sexuelle oder geschlechtliche Identität nun biologisch oder sozial konstruiert ist. Sie ist natürlich beides und die Darstellung beider Seiten findet im Medium der Sprache statt, die schon Darstellungsoptionen vorgibt. (Daher auch die Obsession mit der „geschlechtergerechten Sprache“, die von den Biologist*innen mit noch größerer Vehemenz bekämpft als von den Konstruktivist*innen gefordert wird – stimmt’s? Sie haben sich gleich geärgert, dass ich „Hoden-Besitzer*innen“ geschrieben habe, oder? Sie haben bestimmt spontan die Sprachästhet*in sich entdeckt? Prima: Kommentieren Sie, aber bitte im Versmaß, Sie Sprachästhet*in.)
Die interessante Frage ist allenfalls, wie die beiden Pole des sozial-biologischen Sex-Gender-Konstrukts genau zusammenhängen, wie Zuschreibungen beider Seiten aneinander funktionieren, welche Scheinrelationen es gibt, welche Notwendigkeiten es formal und material hier wie dort gibt und welche „Notwendigkeiten“ in Wahrheit™ kontingente Gewohnheiten sind. Die Geschlechterforschung hat immer wieder gezeigt, dass praktisch alle vormals für real befundene Aspekte von sexueller oder geschlechtlicher Identität zu einem guten Teil Effekt einer sozialen Konstruktion sind und daher mittels Reflexion und Dekonstruktion der Änderbarkeit zugeführt werden können. Wird etwas als Scheinrelation erkannt, verliert es seine Überzeugungskraft. Daran trotzdem festhalten zu wollen, hat etwas von einem religiösen Dogmatismus.
Diese Diagnose bringt den objektiven Unterschied zwischen all den realen Körpern ebenso wenig zum Verschwinden, wie sie eine Ebene der reinen Biologie freilegt, die schließlich ohne soziale Konstruktion auskäme. Das sozial-biologische Sex-Gender-Konstrukt ist ein Gemisch und wird es bleiben. Es wäre schön, wenn wir dieses Gemisch untersuchen könnten und ich nicht ständig den Dünnschiss lesen müsste, Geschlecht wäre ausschließlich eine soziale Konstruktion oder ausschließlich biologisch determiniert. Beides stimmt nicht. Und keine Wissenschaftler*in dürfte heute noch eine der beiden Thesen ernsthaft vertreten. Sich gegenseitig inkonsistente Strohmann-Argumente an den Kopf zu werfen, ist aber nun nur eines: dumm.