Die Zahl der Analysen zu einem Thema und die mittlere Tiefe dieser Analysen verhalten sich bekanntlich indirekt proportional zueinander. Derzeit häufen sich die Analysen der Schuldfrage: Wer ist Schuld an… ihr wisst schon wem. Einige Analyst_innen haben sich dabei nicht entblödet, dem postmodernen oder poststrukturalistischen Denken die Schuld zuzuweisen, da dieses doch für die Postfaktizität verantwortlich zeichneten. Sie hätten schließlich die Handlungsdimension der Worte freigelegt. Zitieren wir einen entsprechenden Blödsinn. In ZEIT ONLINE ‚entlarvt‘ Felix Stephan den theoretischen Unterbau der kulturellen Dominanz der ‚Liberalen‘ in den USA:
„Diese Revolution wurde von den Theoretikern der Postmoderne begleitet. Sie saßen in Paris, Princeton und Berkeley, und sie postulierten, dass Wirklichkeit durch Sprache hergestellt wird, dass die Antwort immer von der Frage abhängt, dass politische Verhältnisse verändert werden können, indem man andere von ihnen sprechen lässt. Die gesellschaftliche Ordnung, die Sprache, die Weltanschauung, die ihre Eltern für Naturgesetze hielten, all das war künstlich und gebaut, und das bedeutete wiederum, dass man es umbauen konnte.“ [Stephan: „Mit den Waffen seiner Gegner“, ZEIT ONLINE, 10. November 2016, abgerufen am 12. November 2016]
Triumphierend setzt er fort: „Jetzt ist der Bumerang allem Anschein nach zurückgekommen.“ – Nun würde ich den uralten Zusammenhang von Frage und Antwort nicht in der Postmoderne verorten, sofern diese nicht schon im antiken Griechenland oder vermutlich noch früher angefangen haben soll. Das gleiche gilt für die Vorstellung, man ändere politische Verhältnisse durch die Beteiligung von bisher unbeteiligten Sprecher_innen, die auch so alt ist, dass spätestens hier klar sein sollte, dass Stephan einen Strohmann konstruiert. Was bliebe, wäre dann vielleicht noch das ‚Postulat‘, dass die Wirklichkeit durch Sprache ‚hergestellt‘ wird, was ebenso ein Strohmann ist, wie man an dem fabelhaften Was heißt ‚soziale Konstruktion‘? von Ian Hacking nachvollziehen kann, in dem Hacking wissenschaftlichen Realismus und postmoderne Realismuskritik gleichermaßen aufs Korn nimmt und letztlich auch nur wieder an die Differenz einer Entität, die immer nur in irgendeiner Form ‚gegeben‘ ist, und ihrer begrifflichen Fassung erinnert. Auch die Feststellung, dass (mutmaßliche) Entität, ihr Gegebensein und ihre begriffliche Fassung nicht von vornherein und schon gar nicht sicher wissbar zusammenfallen, ist alt, sehr alt. Älter als Hacking, älter als die Postmoderne, älter als Kant und älter als Descartes sowieso. Die Handlungsdimension von Sprache, also jenseits des erkenntnistheoretischen Problems, ist auch lange bekannt und sie war es auch lange, bevor beispielsweise Austin und Searle, die ich ja nicht so recht unter die Postmoderne zählen würde, überlegten, wie man mit Worten handelt. Urteile wurden auch in der Antike schon gesprochen.
Okay, Stephan setzt uns also einen qualitätsjournalistischen Strohmann vor. Das ist einigermaßen langweilig, schließlich besteht er in den üblichen Dummheiten, die sich heute als Analysen ausgeben. Interessant ist daran aber eine weitere Dummheit, die daher ein bisschen Polemik verdient: Es ist der Bumerang, der nun „allem Anschein nach“ zurückgekommen ist und die ‚Postulate‘ der Postmoderne gegen die Fans der Postmoderne selbst richtet. Es ist die Dummheit, aus der (schon eher: postmodernen) Kritik an der Wissenschaft, dass diese immer auch politisch sei, die Idee zu machen, dass Wissenschaft stets nur politisch sei. Als ob Foucault, Deleuze, Althusser und all die anderen diese ‚Postulate‘ nur aufgestellt hätten, um einen politischen Kampf zu führen. Mal davon ab, dass Stephan vermutlich nicht weiß, was ein ‚Postulat‘ ist, muss jeder, die auch nur für fünf Minuten in einem Einführungsseminar in der Philosophie nicht geschlafen hat, auffallen, dass diese ‚Postulate‘ und aus ihr abgeleitete Handlungsideen nur dann eine Wirkung haben können, wenn sie in irgendeiner Weise zur Wirklichkeit passen. So wenig wie die Gendertheorie arme kleine Nazis in ihrer Männlichkeit auch nur ansatzweise verwirren könnte, wenn die menschliche Geschlechtlichkeit wirklich so primitiv wäre, wie die AfD-Sprallos behaupten, so wenig kann das ‚Postulat‘, die Wirklichkeit werde durch Sprache verändert, genau die Mittel bereit stellen, mit denen die Wirklichkeit durch Sprache verändert wurde.
Nun steckt hier noch immer ein Fehler: Es ist die Vorstellung, diese Mittel seien durch diese ‚Postulate‘ erfunden worden. Ähm, nein. Die Wahlkämpfe der NSDAP in den frühen 1930er Jahren gelten in vieler Hinsicht als ‚modern‘ (Goebbels als früher Spin-Doctor, der Domizlaffs Propagandamittel der Staatsidee genau studiert hatte [1]) und sie bedienten sich bereits dieser Mittel. Die Mittel sind alt und sogar älter als die Nazis, die lediglich durch technische Entwicklungen den Einsatz der Mittel beschleunigen und ausweiten konnten.
Was ist postmoderne Theoriebildung getan hat, also das Verbrechen, dessen sie sich schuldig gemacht hat, ist dieses: Sie hat diese Mittel, ihren Einsatz, ihre Möglichkeiten analysiert, sie vielleicht auch verfeinert und versucht, aus ihnen Mittel zu gewinnen, die auch für die Emanzipation der Marginalisierten geeignet sind. Sie hat also getan, was vielen als Aufgabe der Wissenschaft gilt: Einen Untersuchungsgegenstand bestimmt, eine Methode entwickelt, eine Untersuchung durchgeführt, die Ergebnisse aufgeschrieben und sie popularisiert, so dass (nicht unbedingt: damit) sie die Identifikation und den Einsatz von Mitteln für Zwecke anleiten können.
Wenn die Theoretiker der Postmoderne damit Schuld auf sich geladen haben, so auch Newton: Ich bin letztes Jahr mit dem Fahrrad gestürzt und habe mir die rechte Hand gebrochen. Ohne Gravitationstheorie wäre das gewiss nicht passiert, Herr Stephan.