Ich finde es ja immer wieder faszinierend, dass Menschenrechte und Rechtsstaat in so vielen Gehirnen einfach nicht angekommen sind. Bevor ich ein aktuelles Beispiel berichte, kann ich mir eine kurze Exkursion nicht verkneifen: Ein Freund von mir, heute Richter, war einmal bei der Staatsanwaltschaft und bekam in diesem Zusammenhang eine Führung durch die Einrichtungen der Flughafenpolizei in Frankfurt. Er besichtigte eine Spezialtoilette, die Verdächtige, die mutmaßlich Drogen in ihrem Darm transportieren, benutzen müssen. Dort müssen sie sich mit Hilfe geeigneter Medikamente erleichtern, worauf ihre Ausscheidungen in eine Art Sieb fallen. Dort können, sofern vorhanden, die Drogenpäckchen aus dem sonstigen Darminhalt herausgesucht werden. Der Beamte, der die Führung machte, erzählte, dass es manchmal vorkomme, dass man den Verdächtigen dazu anhalte, unter Aufsicht die Suche nach Päckchen selbst zu unternehmen. Mein Freund fragte dann, so seine Erzählung, ob es nicht gegen die Menschenwürde verstoße, den Verdächtigen in seinen eigenen Exkrementen wühlen zu lassen. Er erhielt darauf ungefähr diese Antwort:
Menschenrechte, Menschenrechte – und der deutsche Simpel darf’s wegmachen, oder was?
Wie dünn die Schicht ist, auf der unsere romantische Vorstellung von unveräußerlichen Menschenrechten steht, kann man auch im aktuellen Stern besichtigen. Nun, ich lese diese Publikation nicht, aber meine Eltern tun es und so blättere ich bei Besuchen schon mal im Stern und denke mir so meinen Teil. Heute habe ich etwas gefunden, was ich gerne mit Euch teilen möchte. In einem länglichen Artikel zur aktuellen Debatte um die Sicherungsverwahrung wird auf Seite 55 ein Bild von „besorgten Nachbarn“ aus Hamburg gezeigt, die neben Hunden, einem Kind und bis zur Ironie inszenierten Sorgenfalten auch vier Schilder in die Kamera halten:
„Vergewaltiger Sollten KEINE Menschenrechte haben!“
„Bitte Leiser! Sadistischer SerienVERGEWALTIGER braucht Ruhe!“
„Vergewaltiger haben Menschenrechte! Und wass[sic!] ist mit den Opfern?“
„Die tickende Zeitbombe in der [Straßenname] Wer schützt uns?“
Nun weiß ich natürlich nicht, ob das Foto gestellt ist, aber die eingangs erzählte Episode zeigt wie plausibel sie ist. Erlauben wir uns also, das Bild ernst zu nehmen und einfach zu glauben, was in der Zeitung steht. Mich interessiert auch nicht der restliche Artikel, sondern wirklich nur das Bild.
Ist es nicht so, dass man sich eigentlich mehr vor solchen Nachbarn als vor Menschen sorgen sollte, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus einer unhaltbaren Situation befreit hat? Sicher, es ist schwer einzusehen, dass Deutschland mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung gegen die Menschenrechte und elementare Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat und es ist ja nun auch nicht so, dass ich jubeln würde, wenn Menschen, die vermutlich tatsächlich gefährlicher als der Bevölkerungsdurchschnitt sind, in meine Nachbarschaft zögen, aber ist es wirklich angemessen, diesen Menschen gleich ihre elementaren Grundrechte abzusprechen? Wieso ist es so unendlich schwer, einzusehen, dass wir uns mit den Menschenrechten eine absolute Grenze unseres Handelns gesetzt haben, die wir auch bei dem schlimmsten Verbrecher nicht überschreiten dürfen? Wieso verstehen so viele Menschen nicht, dass sie mit der Forderung, einem Menschen Menschenrechte vorzuenthalten, gerade die Grenze überschreiten, die der Täter überschritten hat? Ist es wirklich ein Unterschied, jemandem zum Objekt sexueller Gewalt zu machen wirklich so anders als jemandem seine Menschlichkeit gänzlich zu bestreiten? Natürlich ist es ein riesiger Abstand in der Manier, aber ist es auch ein Abstand im Prinzip? Wenn es einen Abstand im Prinzip gibt, dann vermag ich ihn hier nicht zu sehen. Den eigenen Trieben und Gefühlen gänzlich freien Lauf zu lassen und einen anderen Menschen dadurch bis auf die Ebene eines Dings oder eines Tiers erniedrigen zu wollen, ist beiden Affekten gemein – ob sie nun aus Angst, Hass oder Geilheit geschehen.
Aber seien wir mal ganz pragmatisch: Was begünstigt die Prognose eines Täters wohl mehr, was macht eine erfolgreiche Resozialisierung wohl wahrscheinlicher? Soll man ihm die Chance auf eine Wiederaufnahme in die Gesellschaft einräumen oder soll man ihn dämonisieren? Wer wird wohl eher zum Täter? Ein einsamer Arbeitsloser ohne soziale Kontakte, der auf der Straße angespuckt wird – oder jemand, dem es gestattet wird, ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu sein? Ich meine nicht, dass man dem Täter einfach verzeihen sollte oder so tun sollte, als sei nichts gewesen. Ich meine auch nicht, dass man jede Achtsamkeit und Aufmerksamkeit fallen lassen sollte. Ich meine nur, dass man ihm die Chance im eigenen Interesse und im Interesse der eigenen Menschlichkeit einräumen sollte.
Es mag ein wenig eitel sein, aber den Rechtsstaat und die Menschenrechte gegen Angst und Hass zu verteidigen, ist die eigentliche Lehre, die wir ziehen müssen und entsprechend müssen wir vor uns selbst erschrecken, wenn wir uns in ein dunkleres Zeitalter zurückwünschen.