Es wird nun immer klarer, dass der Mörder von München ein Rechtsextremist war, der sich aufgrund seiner deutsch-iranischen Herkunft für einen Arier hielt. Er scheint auch ein Fan des norwegischen Rechtsterroristen Breivik gewesen zu sein.
Ich verstehe nicht, wieso man die Tat dieses Mörders jetzt noch Amoklauf nennen will. Es handelt sich, da sie offenbar (auch) politisch motiviert war, eher um eine Terrortat, aber doch nicht mehr um einen Amoklauf: Er ist nicht ausgetickt, sondern hat die Tat geplant. Auch der Tag war nicht zufällig, sondern offenbar gezielt ausgesucht (der fünfte Jahrestag des von diesem norwegischen Rechtsterroristen verübten Massakers). Der Begriff „Amok“ verstößt hier gegen meine Intuition. Fragt man die Wikipedia nach einer Definition von Amok, so findet man (a) eine „Störung der Impulskontrolle“ angelehnt am DSM-IV, (b) eine „willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich destruktiven Verhaltens“ angelehnt an den ICD-10, (c) eine Neudefinition für geplante Taten nach Böckler und Seeger (2010): „Bei einem Amoklauf handelt es sich um die (versuchte) Tötung mehrerer Personen durch einen einzelnen, bei der Tat körperlich anwesenden Täter mit (potenziell) tödlichen Waffen innerhalb eines Tatereignisses ohne Abkühlungsperiode, das zumindest teilweise im öffentlichen Raum stattfindet.“ und schließlich (d) aus der gemeinsamen Polizeidienstvorschrift der deutschen Länder entnommene Definition der „Amoklage“ im „polizeitaktischen Sinne“, die auf einen „anscheinend wahllos oder gezielt insbesondere mittels Waffen, Sprengmitteln, gefährlichen Werkzeugen oder ausgewöhnlicher Gewaltanwendung [vorgehenden Täter, wobei dieser] eine in der Regel zunächst nicht bestimmbare Anzahl von Personen verletzte oder getötet hat bzw. wenn dies zu erwarten ist und er weiter auf Personen einwirken kann.“[In Fließtext aufgelöste Aufzählung].
Ich muss gestehen, dass mich dies etwas ratlos lässt. Definition (a) stellt auf die Natur einer psychischen, vielleicht neurologischen Störung ab, während (b) ein beobachtbares Verhalten beschreibt. (c) entfernt daraus den Charakter des Ungeplanten, schränkt auf körperliche Anwesenheit und auf den öffentlichen Raum (teilweise) ein, während (d) ein beobachtbares Verhalten beschreibt und auf die Mittel und Begleitumstände der Handlung abstellt. Die Definition (a) entzieht sich unseren Erkenntnismitteln und scheint mir daher ganz und gar unbrauchbar. Komplexe psychiatrische Diagnosen sind an einer Leiche eher schwierig und so blieben hier nur Spekulationen post mortem. (b) beschreibt zwar ein beobachtbares Verhalten, macht aber eine Aussage über die Planung („willkürlich“) und über die Ursache, wie sie uns erscheint. Die Planung können wir nicht beobachten, vielleicht allenfalls ex post erschließen. Die Bedeutung der Ursache, danach wie sie erscheint, finde ich fragwürdig, da dies ja von der Verständigkeit der Beobachter_innen abhinge. (c) und (d) beschreiben ein Verhalten und entfernen Fragen nach Ursache und/oder Motiv. Immerhin nennen (c) und (d), die ich hier ja nur aus der Wikipedia kenne, Kriterien. Die können wir jetzt abhaken und würden sie de facto wohl auch für den Fall des Münchener Mörders bestätigt finden (für eine „Amoklage“ als Situations- und nicht Tatbeschreibung natürlich cum grano salis).
Die Frage ist also eher de jure, nämlich ob wir diese Definitionen (c) und (d) gelten lassen wollen. Dazu können wir einmal versuchen, wie sich die Definitionen im vorliegenden Fall gegenüber der neuen Erkenntnis verhalten, dass es sich um die Tat eines Menschen mit einem rechtsextremistischen und rassistischen Weltbild gehandelt hat und er die Tat expressis verbis in Zusammenhang mit diesem Weltbild gestellt hat. Das wissen wir nämlich dem Vernehmen nach aus diesem Video, das den Mörder auf dem Dach des Parkhauses(?) zeigt. Da (c) und (d) die Fragen nach Ursache und Motiv ausschließen (was für die unmittelbare Polizeitaktik natürlich sinnvoll ist!), müssen beide Definitionen, soweit sie hier vorgetragen und erörtert wurden, gegenüber dem rechtsextremistischen und rassistischen Weltbild indifferent sein. Dann ist wohl auch das Massaker, das der norwegische Rechtsterrorist Breivik verübt hat, „nur“ ein Amoklauf und Unterschiede fänden sich in dieser Hinsicht auch nicht bei Würzburg, Ansbach oder Reutlingen. Soweit kann also jeder terroristische Anschlag auch als Amoklauf bezeichnet werden, was mich eben ratlos zurücklässt.
Nun gilt wohl die alte Einsicht, dass man mit Differenzen Politik machen kann. Ich meine nun nicht den nicht von der Hand zu weisenden Vorwurf, die Unterscheidung von „Amok“ und „Terror“ lasse sich an der Hautfarbe oder der Religion der Tatbeteiligten festmachen. Dass es in der Begriffsunterscheidung einen Rassismus gibt, ist offenkundig. Aber warum fällt es so schwer, zuzugeben, dass wir ein verdammtes Problem mit Rechtsterrorismus haben und dass insbesondere die Tat in München die Tat eines einzelnen, radikalisierten Rechtsextremisten war und damit, als politisch motivierte Mordtat, mit Fug und Recht „Rechtsterrorismus“ heißen darf. Und dass wir rechte Gewalt in diesem Land klein reden, macht mir Sorgen.