Ich wurde eingeladen, zum CSD Darmstadt 2012 eine Rede zu halten. Ich dokumentiere sie hier:
New York, 1969, 28. Juni, 1:20 morgens: die Szenebar Stonewall Inn in der Christopher Street im Greenwich Village wird wie schon so oft zuvor von der Polizei gestürmt. Sie filzt, schikaniert und verhaftet auch dieses mal wenig zimperlich. Männer in Frauenkleidern müssen von Polizistinnen ihr biologisches Geschlecht überprüfen lassen und sich auf eine Nacht in der Zelle einstellen. Es ist – mal wieder – nichts anderes als die konsequente Anwendung bestehender Gesetze zur Sicherung der öffentlichen Moral und des Anstands. Wie so oft zuvor lässt auch diesmal die Polizei, schönrednerisch Public Morals Squad genannt, ihrem Hass auf Lesben, Schwule und alles geschlechtlich irgendwie Uneindeutige freien Lauf. Man hatte schließlich im Stonewall Inn immer leichtes Spiel gehabt. Aber eines ist anders an diesem 28. Juni 1969: Die Besucher des Stonewall Inn und die Bewohner des Village schlagen zurück. Keine Demonstration, keine Petition. Es ist ein Aufstand! Die Unruhen dauern Tage, bis sich die New Yorker Polizei schließlich zurück zieht. Eine neue Lesben- und Schwulenbewegung ist geboren. Alles ändert sich an diesem 28. Juni 1969 in New York. Ab sofort schlagen die Tunten zurück!
Es dauert nicht lange, bis die in New York auf der Straße freigesetzten Schockwellen Europa erreichen. Die erste Demonstration in Deutschland, die sich explizit auf Stonewall bezieht, findet 1972 in Münster statt. Und 1979 in Berlin ist schließlich der heutige Name „Christopher-Street-Day“, kurz CSD, geboren. Auch wenn sich die CSDs in den folgenden Jahren immer mehr von politischen Kundgebungen zu bunten Festen entwickelten und AIDS ab den 1980er Jahren so viel Leid brachte, ging es auch für uns bald vorwärts. 1994 wird der verhasste §175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. 2001 dann endlich das Lebenspartnerschaftsgesetz und 2006 das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verabschiedet. Seitdem kommt die Gleichstellung langsam, aber sichtbar voran. Die Lesben- und Schwulenbewegung ist seit einigen Jahren auf der Erfolgsspur. Letzte Woche deuteten sich sogar in der CDU Stimmen an, die uns endlich gleiche Rechte für gleiche Pflichten geben wollten – darunter die zum rechten Flügel zählende Familienministerin Kristina Schröder. Es läuft so gut, dass sich Werner Hinzpeters schon 1997 formulierte Diagnose, dass die Lesben- und Schwulenbewegung praktisch alles erreicht habe, auf wunderschöne Weise endlich zu bewahrheiten scheint.
Doch halt! Irgendetwas stimmt an dieser Erfolgsgeschichte nicht! Die rechts-konservative Kristina Schröder, die sonst doch kein Fettnäpfchen am rechten Rand auslässt? Die steht plötzlich auf unserer Seite? Ehegattensplitting für Homos – weil wir konservative Werte vertreten? Sollten da nicht alle Alarmsirenen schellen? Wahrlich! Der Erfolg darf uns nicht besoffen machen: Es ist etwas faul, sehr faul! Aber was?
Es geht mir nicht darum, ob Heiraten spießig ist, wie die taz letzte Woche mutmaßte. Lesben und Schwule haben jedes Recht – auch das, genauso langweilig und spießig zu werden wie die Heten.
Es geht auch nicht darum, dass wir faul auf der Couch sitzen und in der Tagesschau präsentiert bekommen, wie Karlsruhe tröpfchenweise eine Gleichberechtigung verordnet.Es geht auch nicht darum, dass das Lebenspartnerschaftsgesetz ein Sondergesetz ist – selbst dann noch, wenn es irgendwann gleiche Rechte für gleiche Pflichten verwirklicht. Laut diesem Gesetz, „heiraten“ wir ja nicht, sondern „begründen eine Lebenspartnerschaft.“ Gleichviel! Dass mit weniger als einer offenen BGB-Ehe inklusive Adoption und Diskriminierungsverbot die Gleichstellung nicht zu haben ist, liegt auf der Hand.
Um was geht es also? Um Gleichstellung? Kann Gleichstellung darin bestehen, die Unterschiede zu Heten zu nivellieren, indem wir deren Institutionen übernehmen? Nochmal: Natürlich darf es keine Privilegien für Heten geben, und das Recht, eine Familie zu gründen, ist ein fundamentales Menschenrecht. Dass wir noch darüber diskutieren müssen, ist empörend.
Heute sind wir doch „normale Schwule“, die nicht den ganzen Tag Prosecco schlürfend in Drag herumläufen, und normale Lesben, die nicht nur Holzfällerhemden und Latzhosen besitzen – Diese Bilder haben sicher zur steigenden Normalität beigetragen… – Aber Bilder wie diese sind auch gefährlich: Irgendwann glauben wir sie selbst, legen plötzlich Wert auf sie, wollen keine von den schrillen Schwuchteln sein und finden uns – möglicherweise – schließlich in einer aus Karlsruhe verordneten bürgerlichen Ehe wieder. Befreit wurden wir dann aber bloß nur in eine neue Heteronormativität hinein – eine schwule oder lesbische Form der Hetero-Ehe. Mit dieser haben wir aber keine Gleichstellung, sondern Gleichmachung bekommen. Gleichstellung ist mehr. Sie ist Emanzipation und damit mehr als Gesetzgebung und Rechtsprechung. Emanzipation ist zuerst immer eine Frage der eigenen Kultur, des eigenen Denkens und der eigenen Identität. Kurz: Wollen wir keine Gleichmachung, dürfen wir die Emanzipation nicht den Juristen überlassen.
Und noch etwas erreichen wir nicht, wenn wir die Emanzipation den Juristen überlassen. Solange wir Gesetze bekommen, die unser Zusammenleben regeln, zementiert der Staat Geschlechter und Lebensentwürfe, marginalisiert Minderheiten und definiert abweichendes Verhalten. – Allein: Es geht den Staat nichts an, was einwilligungsfähige Menschen freiwillig miteinander treiben. Ein Schlachtruf der 1970er Jahre ist heute wahrer und notwendiger denn je: Der Staat raus aus unseren Betten! Und was damals der Schlachtruf der zweiten deutschen Schwulenbewegung war, muss heute wieder Konsens werden, nicht nur für Lesben und Schwule, sondern für alle Perversen, die nicht in das romantische Bild der monogamen, geschlechtseindeutigen, heterosexuellen Zweier-Beziehung passen.
Wir dürfen uns nicht länger in anständige, monogame und – ja – irgendwie auch spießige Kopien der Heten einerseits und in herumhurende, schrille, perverse Schweine andererseits auseinander dividieren lassen. Denken wir nochmal an Kristina Schröder und ihre konservativen Werte: Ist es wirklich so weit gekommen, dass unser Kampf für die Homo-Ehe uns von denen trennt, die 1969 auf die Straße gegangen sind? Es waren schließlich die Tunten, Stricher und Dragqueens. Fallen wir gerade etwa auf Gesänge einer Sirene herein, die uns der Orientierung beraubt? Sollten wir nicht lieber die bekämpfen, denen wir nur solange genehm sind, wie wir deren konservativ-bürgerlichen Lebensentwürfe übernehmen?
Wir rufen, wir seien „natürlich anders“, aber wir müssen uns auch wieder trauen, anders zu sein. Geben wir zu, dass es neben dem Menschenrecht auf Spießigkeit auch Unterschiede gibt, die wir uns nicht von Juristen einebnen lassen! Erinnern wir uns wieder an die Tunten, Stricher und Dragqueens, die 1969 in New York auf die Straßen gingen. Und erinnern wir uns wieder an die Transidenten, Intersexuellen, Sadomasochisten, Bi- und Asexuellen, Polyamorösen, Inzestuösen und all die anderen Perversen und Paraphilen, an die lange niemand mehr gedacht hat. Es sind all die schrägen Vögel und die Minderheiten in den Minderheiten, die früher noch so selbstverständlich zu uns gehörten. Wenn wir es mit der Emanzipation ernst meinen, darf uns das staatliche Eheversprechen nicht besoffen machen. Emanzipation bedeutet, dass niemand besser oder schlechter ist oder irgendjemand mehr Recht auf Anerkennung hat. Wollen wir „natürlich anders“ sein, müssen wir auch die Andersartigkeit der Anderen feiern. Die, die wir vor lauter Gesetzesrausch völlig vergessen haben, gehören nicht weniger zu uns. Und solange wir nur akzeptiert werden, wenn wir uns verstellen, anpassen und unsere Geschwister vergessen müssen, sollten wir auf diese so genannte Akzeptanz scheißen.