Kleiner Nachtrag zum Denken

Auf Boing Boing fand ich ein schönes Beispiel für verschiedene Denkarten. Ich will zwar nicht unterstellen, dass die Trennung von intuitivem und analytischem Denken, die die Autoren vornehmen, meiner Unterscheidung, die ich hier gemacht habe, entspricht, aber vielleicht ist es dem ein oder anderen hinreichend ähnlich, dass sie es als empirisch messbares Beispiel für die Unterscheidung nehmen, die ungefähres Denken dem gesunden Menschenverstand zugeordnet hat.

Es ist mir aber wichtig, nochmal zu betonen, dass der gesunde Menschenverstand keineswegs defizitär ist. Ich habe in Diskussionen zu meinem Blogpost, nicht nur hier, sondern auch im IRC oder auf Google+ gelegentlich Leute getroffen, die sich selbst für besonders rational erklärt haben, um dem gesunden Menschenverstand, so wie ich ihn dargestellt habe, fehlerhaftes Denken zu unterstellen und mich dann für die gewählte Bezeichnung zu kritisieren. In so einer Position stecken natürlich drei Fails: Erstens ist es ziemlich schräg, sich selbst für besonders rational/analytisch zu erklären, da jeder sich für den rationalsten Menschen der Welt hält. Daher stammt ja auch der Witz, dass der Verstand die am besten verteilte Sache der Welt sei, da ja jeder genug davon habe. Zweitens wird übersehen, dass der gesunde Menschenverstand notwendig bei allerhand Tätigkeiten am Werk sein muss. Ich will denjenigen sehen, der sich mittels rationaler Erwägungen im Peer-Review den Hintern erfolgreich abwischen kann. Drittens wird unterstellt, dass das Denken der Wahrheit zuneige und, wenn es das nicht tue, es eben falsch sei. Dieses Bild des Denkens ist sehr dominant, weil es uns spätestens seit Kant eingetrichtert wurde und die Wahrheit in der Wissenschaft eine normativ-approximative Rolle spielt. Allerdings ist es keineswegs selbstverständlich, dass das Denken notwendig mit der Wahrheit im Bunde steht. Tatsächlich ist das Denken viel pragmatischer: Es operiert weniger über die Wahrheit, sondern eher über den Erfolg des Funktionierens. Mich erstaunt es immer wieder, wie sehr beispielsweise manche Programmierer und Informatiker daran festhalten, wo doch die meisten nicht mittels formaler Verifikation Programme schreiben, sondern dies eher durch eine Mischung aus Geschick und Debugging erledigen. Aber die Geschichte, warum die Wahrheit weder notwendig, noch hilfreich für die Beschreibung des Denkens ist, ist ein weites Thema und wird vielleicht ein anderes mal gebloggt.

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Nur Ähnliches ist Ähnlichem ähnlich

Eine dumme, unbedachte Äußerung:

„Der Aufstieg der Piratenpartei verläuft so rasant wie der der NSDAP zwischen 1928 und 1933“

(Quelle und Distanzierung) Im IRC erlebe ich nun einige Piraten, die nicht ganz verstehen, wieso der Vergleich so problematisch sei, da doch nicht die Parteien selbst, ihre Programme, ihre Strukturen, ihre Absichten miteinander verglichen wurden, sondern ihr Aufstieg, d.h. objektivierbare Zahlen. Wo sollte also das Problem sein?

Tatsächlich lässt sich der Satz mit dem Denkstil eines Informatiker, Mathematikers oder Physikers (Der Urheber des Satzes ist Physiker und arbeitete als Softwareentwickler [Quelle].) leicht zerlegen: Politischen Parteien lässt sich über Zeitintervalle eine Kurve ihrer Umfrage- und/oder Wahlergebnisse zuordnen und mittels geeigneter Instrumente lassen sich Ähnlichkeiten feststellen, etwa dass bei geeigneter Zuordnung der Zeitintervalle die Differenz der gemessenen Zahlen eher klein ist oder dass die Steigerungsraten einander entsprechen oder dass es gemeinsame Sattelpunkte, Extremwerte etc. gibt – kurz: dass sich eine (im Idealfall: wohldefinierte) Ähnlichkeit in einem bestimmten Aspekt der Attribute zweier Objekte finden lässt. Das ist eine verobjektivierbare Frage: Es trifft zu oder es trifft nicht zu. – Der (logische) Schluss auf Ähnlichkeiten hinsichtlich anderer Attribute ist unzulässig: Nur weil Tomate und Apfel eine ähnliche Form haben, schmecken beide noch lange nicht gleich.

Ja, es wäre so einfach, wenn die Welt aus Informatikern, Mathematikern und Physikern bestünde und nicht die bestverteilteste Sache der Welt diesen richtigen Überlegungen immer wieder in die Quere käme: der gesunde Menschenverstand. Dieser ist übrigens deshalb die bestverteilteste Sache der Welt, weil notorisch jede und jeder der Auffassung ist, genug davon zu besitzen und spätestens damit beginnen die Probleme: Der gesunde Menschenverstand neigt nämlich dazu, nicht allzu genau hinzusehen, gerade wo er nicht im Übermaß vorhanden ist. Er macht sich darüberhinaus zum willfährigen Sklaven der Interessen und Neigungen, wo er es der interessierten Seite leicht macht, nur das eine oder nur das andere zu sehen, so wie es eben beliebt. Und schließlich, und das ist aus der Sicht der Informatiker, Mathematiker und Physiker sicher das schlimmste:

Der gesunde Menschenverstand ist nicht logisch.

Um das klar zu machen, muss ich philosophisch etwas ausholen, werde mich aber kurz halten. Interessierte Leser finden beispielsweise in Deleuze‘ Kant-Buch Details.

Der gesunde Menschenverstand ist vor allem ein Vermögen, das danach strebt die anderen Erkenntnis- und Wahrnehmungsvermögen des Menschen in eine Harmonie zu bringen. D.h. seine Funktion ist nicht, Unterschiede zu sehen und skeptisch das Eine kritisch vom Anderen zu trennen, sondern er stellt Verbindungen her. Das ist praktisch, wenn man einkaufen geht, weil er uns die philosophisch (und neurologisch) überaus schwierige Frage erspart, wieso der Apfel, den wir gerade betasten, sehen, riechen (Wahrnehmungsvermögen), ein und dasselbe Objekte ist und wirklich und tatsächlich in der Realität einigermaßen zeitstabil als Apfel vorhanden ist (Rekognitionsvermögen). Nein, er ist einfach ein Apfel. Er leistet dies, indem er eben nicht wissenschaftlich genau vorgeht, sondern ungefähre Eindrücke zusammenzieht und deren Einheit unterstellt. Dies darf aber keinesfalls als Aufforderung verstanden werden, den gesunden Menschenverstand abzulehnen. Wir würden sofort blind umher irren und vor lauter Farben, Gerüchen, Geräuschen, Gefühlen… nein, nicht den Verstand verlieren: den hatten wir ja schon qua Voraussetzung abgelehnt.

Doch wie funktioniert das Zusammenziehen? Der gesunde Menschenverstand ist – grob gesprochen – eine Funktion, um Einheit dort herzustellen, wo sie sich bestenfalls nur andeutet. Und das ist, unter anderem, die Ähnlichkeit. Eine Regel des gesunden Menschenverstandes ist, dass nur das Ähnliche dem Ähnlichen ähnlich ist. Das ist natürlich logisch falsch und wissenschaftlich gesehen ziemlicher Unfug, klar, aber zu den schockierenden Momenten jedes Studiums gehört der Moment, in dem klar wird, dass unsere Alltagsintuition inkonsistent ist. Cantor und Frege können ein trauriges Lied davon singen. Aber diese Funktion, nur das Ähnliche dem Ähnlichen als ähnlich anzusehen, funktioniert, leider, auch in so genannten Ratschlägen. Beinahe jeder dürfte schon einmal gehört haben, dass Walnüsse gut für das Gehirn seien und dazu suggeriert bekommen haben, dass Walnüsse mit ihrer Struktur den Gehirnfalten nicht unähnlich seien. Der gleiche Unfug ist am Werk, wenn unser Gehirn bittere Medizin besser wirken lässt als süße oder wenn ein betrügerischer Homöopath Coffein gegen Schlaflosigkeit anrührt.

Es hilft aber nichts, dass die Regel, dass nur das Ähnliche dem Ähnlichen ähnlich sei, falsch ist. Es ist eine Sisyphosarbeit all den Auswüchsen dieser Funktion als wissenschaftlich aufgeklärter Geist immer und immer wieder zu widersprechen. Die Aufklärung wird hier nie zu ihrem Ende kommen: Die Regel ist und wird auch weiterhin in unserem Geist am Werk sein, uns beim Einkaufen helfen und leider auch viele politische Entscheidungen steuern. Wir sind eben keine rationalen Wesen, sondern nur Wesen, die der Rationalität grundsätzlich fähig sind. Denken, kritisches Denken ganz besonders, bleibt die Ausnahme. Das ist beklagenswert – gewiss! – und die Anwendung des gesunden Menschenverstands in der Politik hat großes Potential sich als Sargnagel der Demokratie zu erweisen, aber umso wichtiger ist, dass die, denen das Denken außerhalb des gesunden Menschenverstandes leicht fällt, um die Gefahr wissen und sich jeder unabsichtlichen Andeutung von Ähnlichkeit enthalten: Die Ähnlichkeit in einem Aspekt ist für den gesunden Menschenverstand immer auch die Ähnlichkeit der Sache selbst.

Die Beispiele für diese Regel füllen Tragödien unserer Geschichte und jede Science Fiction-Serie spielt früher oder später damit, wenn sich das häßlichste Alien als freundlich und das schönste (und meistens dann auch dem Menschen ähnlichste) Alien als das feindliche herausstellt. Deshalb sind in Telenovelas die bösen Frauen niemals blond und in traurigen Geschichten der frühen Neuzeit die rothaarigen Frauen allzu oft Hexen: Wer Haare hat rot wie das Feuer, mit dem kann etwas nicht stimmen.

Ich weiß, ich wiederhole mich, aber es muss in die Köpfe der Piraten rein, damit solche Sätze nicht mehr fallen: Deute niemals und unter keinen Umständen eine Ähnlichkeit in einem noch so wohldefinierten Aspekt an, wenn Du keine Ähnlichkeit der Sache selbst unterstellen willst. Der gesunde Menschenverstand funktioniert so und wenn Du Politik machen willst, dann musst Du die Menschen eben da abholen, wo sie stehen und – so grauenhaft das auch ist! – das ist nicht im Tempel der Vernunft, sondern im Alltag, den der gesunde Menschenverstand regiert.

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Warum Deutschland Strom importiert (und warum es noch mehr exportiert)

Ok, dieses Posting fällt für mein Blog etwas aus dem Rahmen, aber ich fand das folgende Video von Charlotte Loreck, Wissenschaftlerin im Institutsbereich Energie & Klimaschutz am 13.3.2012 (TU Darmstadt) zu Wirkungen auf den Strommarkt, -preise und Versorgungssicherheit ausgesprochen spannend. Interessant finde ich besonders, dass der massive Ausbau der erneuerbaren Energien den Strompreis sinken lassen würde und dass der Import von Strom nach Deutschland nichts mit der Versorgungssicherheit, sondern mit dem Preisbildungsmechanismus zusammenhängt:

(via)

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Nazis bei den Piraten? (Oder: Warum ich wieder eingetreten bin)

Gelegentlich kocht in der Presse das Thema hoch, die Piraten seien von Nazis und/oder Spinnern durchsetzt, wichtige Piraten nähmen es mit der teils braunen, teils fundamentalistischen Vergangenheit nicht so genau oder würden noch immer wunderliche Auffassungen vertreten.

Es ist sicher falsch, die Presse nun einer Kampagne gegen die Piratenpartei zu verdächtigen. Tatsächlich ist es die Aufgabe der Presse, den teils tatsächlich verbesserungswürdigen (weil zu bayrischen) Umgang mit rechten Spinnern zu skandalisieren und auf diese Weise Druck auf Parteien auszuüben. Tatsächlich wäre es wünschenswert, wenn die Presse auch den anderen Parteien gegenüber gründlicher wäre: Schließlich ist Sarrazin noch immer in der SPD, Steinbach noch in der CDU und Geis in der CSU – drei Politiker, die für absolut schwachsinnige Aussagen bekannt sind.

Was unterscheidet aber die Piratenpartei von den anderen Parteien, wenn doch in allen Parteien Spinner unterwegs sind und sich etwa in der hessischen CDU durchaus deutschnationale Kräfte tummeln, die die CDU konsequent ignoriert, duldet und manchmal sogar hofiert? Es gibt tatsächlich einige Unterschiede:

1. Unterschied: Attraktivität

Die für die Piraten sicher ungünstigte Diagnose ist, dass die Partei derzeit für allerhand Spinner attraktiv ist. Es ist leicht, sich zu beteiligen. Es ist ziemlich leicht, ein Parteiamt zu bekommen und vergleichsweise leicht, sich um ein Mandat zu bewerben. Wer, wie ich, einige Jahre in der SPD war, wird das piratische Parteitagschaos der SPD-Mode, über vom Vorstand ausgeteilte Beschlussvorlagen abzustimmen, sicher vorziehen.

Die Piraten machen es also Spinnern leicht, auf die eine oder andere Weise in der Partei mitzuarbeiten. Aber zur Attraktivität gehört nicht nur die Offenheit der Piraten, die sie nicht um alles in der Welt aufgeben dürfen, egal wie viele Spinner angelockt werden. Zur Attraktivität gehört auch, dass das demokratische System in Deutschland de facto unter einer erschreckenden Legitimations- und Identitätskrise leidet. Während sich die meisten Menschen (und praktisch alle Piraten) de jure mit einem demokratischen, föderalen und sozialen Rechtsstaat identifizieren können, hat die politische Kaste ein im Nebel von Worthülsen, Hinterzimmern und Beziehungen verborgenes System geschaffen, das die Mehrheit der Bevölkerung zu bloßen Zuschauern der Demokratie reduziert. In der vollkommenen Sozialdemokratie stimmen wir alle vier Jahre für den großen Vorsitzenden.

Die Piratenpartei verspricht ein Mittel gegen den Nebel zu sein. Daher ist sie, egal wie viele Spinner sich dort tummeln mögen, zunächst einmal ein Kandidat für eine Erneuerung der Demokratie. Ob sie es auch de facto sein wird, wird sich zeigen und auch die klügsten Kommentatoren wissen es einfach noch nicht. Die Offenheit zieht aber nicht nur „Politiker aus Notwehr“ an, die eine Notwendigkeit, eine Pflicht empfinden, sich um öffentliche Angelegenheiten zu kümmern, sondern auch auch alle anderen, die das Bedürfnis nach Veränderung haben – egal ob dieses menschlich, idiotisch oder gar faschistisch ist. Das bedeutet nun aber keineswegs, dass die, die sich als rechte Spinner bei den Piraten erweisen, nun auch wirklich harte Faschisten sind: Auch in politischen Parteien gibt es ein Stockholm-Syndrom, wie ich als ehemaliger SPD-Genosse am eigenen Leib erfahren habe. Wer die Existenz dieses Phänomens bestreitet, sollte sich testweise mit jüngeren FDP-Mitgliedern unterhalten, die unterdessen einen tragikomischen Aufwand treiben, um die eigene Katastrophe mittels kognitiver Dissonanz zu vernebeln. Nicht weniger gibt es auch Menschen, die in einem Veränderungsdruck gefangen auf die dumpfen Versprechen von Rechts reingefallen sind und durch die plumpe Adaption der rechten Ideologie mangels glaubwürdiger parteipolitischer Alternative eben dieser Ideologie entgegen gearbeitet haben. Diese Menschen, so bescheuert ihre vergangenen Aussagen auch gewesen sein mögen, mit harten, d.h. ideologisch gefestigten Rechtsradikalen in einen Topf zu werfen, ist eine dumme Polemik, die sich jeder halbwegs vernunftbegabte Mensch besser sparen sollte.

Auch für die rechten und fundamentalistischen Spinner bei den Piraten gilt also die Lernfähigkeitsvermutung. So wie sich ein RAF-Anwalt zum law-and-order-Innenpolitiker wandeln kann, kann auch eine junge Frau, die sich in einem komplexen und vielleicht ideologisch nicht einwandfreien Umfeld zu dummen Bemerkungen hat hinreißen lassen, zu einer aufrechten Demokratin entwickeln, sobald sie eine demokratische, menschliche und offene Alternative zu den rechten Ideologien hat, um ihren völlig berechtigten Politikfrust zu artikulieren. Die entscheidende Frage darf also nie sein, was jemand früher einmal gesagt hat, solange heute offen und selbstkritisch damit umgegangen wird. Der Versuch, dies einfach unter den Teppich zu kehren, kann dramatisch schief gehen. Es gilt: »Sei transparent! Steh zu Deinen Fehlern! Sei selbstkritisch!« – Und wenn sich kein Lerneffekt einstellt, ja, dann sollte die Piratenpartei solche Leute nicht mit Hausmeisterposten versorgen, sondern schlichtweg rausschmeißen.

2. Unterschied: Sichtbarkeit

Erinnert sich jemand an Martin Hohmann? Ein CDU-Politiker, der 2003 eine Rede hielt, die von vielen als antisemitisch, antiatheistisch und auch sonst reichlich ahistorisch wahrgenommen wurde. Hohmann wurde schließlich aus der CDU ausgeschlossen. In diesem Fall hat die CDU reagiert, aber nicht ohne öffentlichen Druck. Tatsächlich sind, sagen wir: wirre Ansichten bei der hessischen CDU nicht selten und gelegentlich schafft es die ein oder andere seltsame Bemerkung in die Medien, aber in den seltensten Fällen werden hieraus Konsequenzen gezogen. Warum? Das Spiel mit der Transparenz ist ein doppeltes. Es ist sicher richtig, dass die Spitzen der großen Parteien in völlig intransparenten Verfahren Entscheidungen auskungeln, die die Delegierten anschließend möglichst kommentarlos zu fressen haben. Großes Kino war für mich ja die Meldung, dass Christian Lindner, der FDP-Spitzenkandidat in NRW, sich nach seiner Nominierung den Mitgliedern erstmals vorstellte.

Es ist aber auch richtig, dass die Mitglieder den Parteien völlig intransparent sind und es kaum eine Chance gibt, sich einen auch nur halbwegs systematischen Überblick zu verschaffen. So wenig transparent die Parteispitze, so wenig ist es auch die Parteibasis. Das Leben einiger spinnerter CDU-, FDP-, SPD-Mitglieder findet eben nicht im Internet statt und ist damit auch nicht dieser großartigen Sichtbarmachungsmaschine ausgeliefert. Es gibt schlichtweg keine Möglichkeit, den Kandidaten der anderen Parteien nachzusteigen und die Mitglieder, z.B. der CDU-Landesliste für die Bundestagswahl, auf Herz und Nieren zu prüfen. Auf Abgeordneten- und Kandidatenwatch werden feingeschliffene Antworten geliefert und offline gehaltene Reden werden allzu oft nicht dokumentiert. Sicher gibt es Ausnahmen wie den Wetzlar Kurier, in dem der CDU-Rechtsaußen Hans-Jürgen Irmer seine Ansichten auf totem Baum und damit eher schwer googlebar abspeichert. Von diesem Ausnahmen abgesehen, gibt es wenig Möglichkeiten, Kandidaten wirklich gründlich zu befragen und zu durchleuchten.

Dass die Presse, aber auch die Piraten selbst, nun also Spinner verschiedener Farben in den eigenen Reihen findet, bedeutet nicht, dass es notwendig dort mehr Spinner geben muss, auch wenn dies (vgl. den ersten Unterschied) prozentual durchaus wahrscheinlich ist. Der Unterschied ist, dass bei den Piraten nicht nur keine Hinterzimmer existieren, sondern die Meinungsbildung praktisch aller Mitglieder (mich eingeschlossen) im Netz öffentlich stattfindet. Und wer weiß? Sollte ich mal in einen Aufmerksamkeitsfokus geraten, findet vielleicht jemand meine dunkle Vergangenheit bei seltsamen Vereinen wie der SPD oder in der Jugendarbeit heraus. Vielleicht erfährt auch jemand, dass ich mit Anfang 20 deutlich anti-amerikanisch eingestellt war – mit marxistischer Grundtendenz natürlich. Ich habe vor dieser Form der Sichtbarkeit weniger Angst als vor dem Angebot der anderen Parteien, die Katze im Sack zu kaufen: Bei der SPD hatte ich nie die Möglichkeit, die Kandidaten für die Delegierten-Parteitage zu befragen. Es war ein simples Ja oder Nein.

3. Unterschied: Befragbarkeit

Und genau diese Befragbarkeit ist der fundamentalste und wichtigste Unterschied zwischen den Piraten und einer herkömmlichen politischen Partei: Als es in NRW daran ging, die Liste für die vorgezogene Landtagswahl aufzustellen, meldete die taz, dass sich unter den Kandidatenkandidaten ein evangelikaler Christ befände, der wunderliche Ansichten zur gleichgeschlechtlichen Ehe und zum Kreationismus verträte. Mich erschreckte das, war ich doch Ende 2009 aus der Piratenpartei ausgetreten, nachdem meine öffentliche Kritik an einem AIDS-Leugner und Impfkritiker eher Kritik an mir als an  ihm ausgelöst hatte. Ich war wütend und frustriert, dass bei den Piraten öffentlich jemand erklären durfte, dass AIDS deshalb in Afrika so verbreitet sei, weil sich die Menschen dort zu wenig waschen würden. Ich habe seitdem die Piraten mit einer gewissen ambivalenten Sympathie beobachtet und zunehmend durchaus Kräfte wahrgenommen, die sich den Spinnern in den Weg stellten.

Diesmal wollte ich also nicht einfach wegsehen, sondern schauen, wie stark diese Kräfte sind und ob sich etwas geändert hätte. Ich stellte also einige Fragen in den Kandidatengrill der NRW-Piraten ein. Ich formulierte Fragen zur Sexualpädagogik, zum Biologie-Unterricht und zu den Menschenrechten lesbischer und schwuler Menschen. Tatsächlich antwortete die Zielperson auf einige meiner Fragen, wurde aber bald schwierig und beschuldigte mich der Diffamierung. Zwar erschließt es sich mir nicht, wie man jemanden, der keine heiklen Positionen vertritt, durch offene, d.h. nicht persönlich gestellte Fragen im politischen Diskurs diffamieren kann, aber ich war auch gar nicht so sehr an seinen Antworten selbst interessiert, sondern an den Reaktionen der anderen Piraten. Tatsächlich reagierten diese und fanden die Vorstellung, einen wie auch immer gearteten Schöpfungsmythos gleichberechtigt mit der Evolution im Biologie-Unterricht zu behandeln, nicht sehr erbaulich. Insofern ist es auch nicht wichtig, ob der Kreationist auch ohne meine Fragen wirklich eine Chance auf dem Parteitag gehabt hätte. Wichtig sind zwei Dinge: Erstens haben sich die Piraten so weit entwickelt, dass der Meinungsfreiheitsradikalismus einiger Piraten von 2009 offenbar einer zunehmenden Kritik an bizarrem Unfug gewichen ist. Man ist offenbar nicht mehr bereit, beliebigen Brechdurchfall mit einem Lächeln als metaphysische Errungenschaft der Verfassung zu feiern. Zweitens – und vielleicht ist das sogar das Wichtigere – habe ich gelernt, dass es richtige Orte für Fragen gibt und dass Fragen tatsächlich etwas verändern können, dass also auch bei den Piraten die Wahrheit und Klarheit vor der Wahl eine Rolle spielt.

Dies ist also der dritte Unterschied: Bei den Piraten können auch Nicht-Mitglieder Fragen stellen. Die Fragen werden nicht als freche Zumutung an den großen Vorsitzenden über die bevorstehende Elternzeit behandelt, sondern als das, was sie sind: als Fragen – als ehrliches, mitunter polemisches Informationsinteresse, dass nicht wie die Beschimpfung vernichtet, sondern den Befragten in eine Entscheidungssituation bringt. »Du darfst alles denken und alles sagen, aber ich muss es nicht gut finden.« ist das heimlich mitgesprochene Mantra aller solcher Fragen. Fragen, die so aufgefasst werden, sind Bewegungen in einem demokratischen Diskursraum, nicht lästige Artefakte einer sozialdemokratischen Marketingkampagne, die Parteitagsdiskussionen als „medial unerwünscht“ abwürgt. Sind hier Fragen unwillkommen, schienen sie insgesamt bei den Piraten, die sich größtenteils Grillfragen wünschen, eine vornehme Pflicht der Demokratie zu sein. Dialogbereitschaft bedeutet eben miteinander zu sprechen und nicht nur Monologe aneinander zu reihen.

4. Unterschied: Skandalisierbarkeit

Schließlich unterscheiden sich die Piraten in einem vierten Punkt, den man vornehm die Skandalisierbarkeit nennen könnte. Gemeint ist die positive Seite der mitunter arg unsäglichen Shitstorms. Die kurzen Wege der Kommunikation und die Offenheit der Piraten laden dazu ein, seinen Unmut über Twitter oder Mailingliste in die halb interessierte, halb indifferente Parteiöffentlichkeit zu blasen. Betrifft es ein Thema, das die eigenen Follower interessiert, wird retweetet und es entfaltet sich eine Dynamik, die vielleicht nicht immer genau abwägt, aber doch Reaktionen provoziert (wie dieser Blogpost eine ist). Der Unterschied ist, dass es diese Agora gibt, ohne dass man an der Redaktion eines Vorwärts vorbei müsste und ohne dass die eigenen Parteifreunde die Kritik als Nestbeschmutzerei auffassen würde. Die Existenz als Parteimitglied der Piraten ist wenigstens derzeit, so scheint mir, keine Verpflichtung zur bedingungslosen, d.h. kopflosen Kooperation bei der großen Marketingkampagne. Der Punkt an der Skandalisierbarkeit ist vielmehr, dass Kritik nicht als Frechheit aufgefasst wird, sondern qua Wiederholung der Kritik (Retweets, Blogs) eine Dynamik entfaltet, die es unmöglich macht, nicht mit der Öffentlichkeit im Dialog zu stehen. Dies ist ein fundamentaler Unterschied zu redigierten Parteizeitungen, offiziellen Presseverteilern und hochoffiziellen Ansprechpartnern, die darauf trainiert sind, Kritik abzuwiegeln. Es ist gleichsam eine dritte Dimension der Transparenz: Es ist leicht, die Mitglieder der Piratenpartei anzusprechen. Fasst der Schwarm das Thema als relevant auf, wiederholt er es qua Retweets, Mails und Blogs und verarbeitet die Kritik auf diese Weise.

Es sind diese vier Unterschiede, die mich diese Woche dazu bewogen haben, erneut einen Mitgliedsantrag zu stellen.

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Anmerkungen zur Tyrannei der Massen

Kurz nach der Saarland-Wahl formte der Generalsekretär einer unbedeutenden Splitterpartei den Begriff der „Tyrannei der Massen“, der seitdem viel Häme auf Twitter und kaum weniger blödsinnige Kommentare seitens des Journalismus produziert hat. Zwei Anmerkungen sind indes zu diesem Begriff zu machen:

1. Das Deutsche kennt zwei Genitive

Vielen vermutlich bestenfalls aus dem Latein-Unterricht bekannt, kennt auch das Deutsche zwei Genitive, die sich allenfalls anhand des Kontextes, nicht aber anhand der grammatikalischen Struktur unmittelbar unterscheiden lassen: Der genitivus objectivus und der genitivus subjectivus. Im Falle des genitivus subjectivus erweitert der Genitiv die Bedeutung des Substantivs, indem er dieses, etwa durch Nennung eines Urhebers, näher bestimmt. Zu erkennen ist diese Form des Genitivs mittelbar durch die Reformulierungsprobe. Formt man den Genitiv „Tyrannei der Massen“ nämlich zum Satz, so ergibt sich in Sinne des genitivus subjectivus der Satz, dass die Massen tyrannisieren (vermutlich den genannten Generalsekretär).

Fasst man jedoch den Genitiv als genitivus objectivus auf, den man ebenso mittelbar durch die Reformulierungsprobe entlarvt, da er dort zum Objekt des Satzes wird, dann lautet der Satz, dass jemand (wer auch immer) die Massen tyrannisiert. Diese Deutung ist im Gegensatz zur Vorstellung eines genitivus subjectivus gereimt: Während dieser die Alleinherrschaft (also Herrschaft durch Einzelne) durch die Masse (hier also aber Viele) bedeutet, enthüllt jener die Alleinherrschaft über die Massen.

Befragt man einen der frühen Staatsdenker, Aristoteles, wird sogar klar, dass dies die einzige Möglichkeit ist: τυραννίς ist dort definiert als die Alleinherrschaft über das Volk, während die δημοκρατία die Herrschaft der aller (legitimen Mitglieder des Volks) über alle bedeutet.

Im Sinne der dialektischen Selbstentlarvung durch den beständigen Überschuss im Sprechen hat der Generalsekretär, indem er die Tyrannei durch die Massen beklagte, also nolens volens die Tyrannei über die Massen gewünscht. Die einzige Alternative zu diesen Herrschaftsformen bestünde schließlich in der Abwesenheit der Herrschaft, also der Anarchie – und ob das seine Absicht war, ist zu bezweifeln.

2. Die versteckte Voraussetzung der „Tyrannei der Massen“

Aber gestehen wir dem Generalsekretär zu, dass tatsächlich Furcht vor einer Tyrannei durch die Massen hat und fragen nach den Voraussetzungen dieser Emotion: Mir scheint, sofern nicht Paranoia unterstellt werden soll, lediglich die Auffassung in Frage zu kommen, dass die Masse zur Herrschaft nicht geeignet sei. Denn wie schon Aristoteles feststellte, kann die Tyrannei durchaus dem Gemeinwohl dienen und aus der Geschichte Preußens kennen wir schließlich doch auch den aufgeklärten Absolutismus – und wer wollte nicht in Frieden, Freiheit und Wohlstand unter einer großzügigen und klugen Königin leben, die Spaß am Streit, Freude an der Kunst und Vergnügen am Wissen empfindet? Wer bestellte nicht gerne einfach den Garten und scherte sich stattdessen gerne um das Räderwerk, das solch ein Paradies schafft? Würde man andererseits der Herrschaft mit solcher Skepsis begegnen, dass ihr Missbrauch wahrscheinlich ist, dass die Herrschaft also ungerecht und unaufgeklärt handelt, wenn man also das Schlimmste vorzubereiten wünscht, dann bleiben wohl nur zwei Alternativen: die Anarchie, die der Generalsekretär vermutlich nicht wünscht, oder die Einsetzung einer geeigneten, trefflichen Herrschaft. Die Demokratie kann dies nicht sein, denn dies wäre ja die Tyrannei durch die Massen, die qua Voraussetzung als ausgeschlossen angesehen werden kann. Die Demokratie kann dies, angesichts der Überlegungen zur guten Königin, aber nicht sein, sofern die Masse zur Herrschaft nicht tauglich ist. Wäre die Masse zur Herrschaft tauglich, wäre sie wohl gut zu nennen. Modus tolens. Soll aber geherrscht werden und soll es nicht die Masse sein, die herrscht, so bleibt nur die Herrschaft des einzelnen oder der wenigen über die Massen. Also Tyrannis oder ihre kleine Schwester, die Oligarchie, im Wortsinne. Weder Tyrann noch Oligarchen können aber von den Massen bestimmt und legitimiert werden. Würde dies geschehen, so müsste man einräumen, dass die Masse eine hierfür geeignete Weisheit besäße. Dies wäre vor dem Hintergrund des Gesagten aber in mehrfacher Hinsicht ungereimt. Allein, es widerspräche der Definition. Gereimt wäre nur, dass die untreffliche Masse zur Legitimation der Herrschaft eben nicht geeignet ist.

Betrachtet man aber so die Masse, dann kann man nicht wollen, dass die Masse, wie groß sie auch immer sei, herrsche. Kurz: Dieser Generalsekretär ist kein Demokrat und steht seiner Partei damit gut zu Gesicht.

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Bitte sprechen Sie kein Deutsch!

Aus einer Stellenausschreibung, die vor kurzem hier über eine Mailingliste kam:

The applicant must not speak German at the time of application but be willing to learn German such that everyday conversation can be realized soon in German. Candidates should be prepared to participate in weekly meetings of the research group of Prof. […].

Ja, gut… dann bin ich schon mal raus.

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Lebenszeichen und seltsames Essen

Ich hatte mir vorgenommen, häufiger zu bloggen und aus meinem Auslandsaufenthalt zu berichten. Aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Ich habe es tatsächlich geschafft, seit Mitte Januar mein Blog zu vernachlässigen und mich hier in Arbeit und Zerstreuung zu vergraben. Mein Forschungsprojekt macht auch Fortschritte, auch wenn sechs Monate verdammt wenig sind…

Die lokale Küche ist übrigens durchaus seltsam. Als eine lokale Spezialität wurde mir „Poutine“ [putiːn] empfohlen. Allerdings kam mir die Beschreibung immer etwas seltsam vor und ich fragte nach. Als die Wiederholung noch immer eher absurd klang, habe ich das mal akzeptiert und mir vorgenommen, im Netz nachzuschauen, was es denn nun ist… nun, ich habe die Beschreibung durchaus richtig verstanden: Pommes, Käse, Bratensauce. Gut, Junk-Food treibt seltsame Blüten, aber dass das auch noch eine lokale Spezialität ist, die von Reiseführern empfohlen wird und von der selbst Einheimische längere Vorträge über gute und schlechte Qualität halten. Das hat mich bisher auch davon abgehalten, Poutine zu probieren. Mein Mitbewohner hatte einfach noch keine Zeit, mir das beste Poutine der Stadt zu zeigen…

So sieht es übrigens aus:

Poutine, CC-by, © Jonathunder

Poutine, CC-by, © Jonathunder

Veröffentlicht unter Montreal 2012 | Schreib einen Kommentar

Guck doch mal, wie schön das ist… :-P

Heute hatte ich erstmal die Gelegenheit, etwas herumzulaufen (und mir eine neue, wärmere Mütze zu kaufen):

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Einkaufen und Anpassungsstress

Ich bin doch ein bisschen von mir selbst (positiv) überrascht, dass ich mit dem Anpassungsstress relativ gut klar komme. Davon abgesehen, dass ich mich hier in einen bestehenden Haushalt einfinden muss, finde ich es doch erstaunlich schwer, sich in einem Supermarkt zurecht zu finden, in dem man so wenig vertraute Produkte sieht. Ich schlage mich zwar ganz ordentlich, aber trivial finde ich das nicht.

Gestern habe ich erstmal mehr vom Jetlag ausgeschlafen, der mich doch mehr belastet hat, als ich, Eule die ich bin, bei einem Flug nach Westen erwartet hätte. Außerdem habe ich mein Zimmer weiter bezogen, alles an seinen neuen Platz gebracht und meine Arbeit hier in Montreal weiter vorbereitet, was bedeutet, dass ich die notwendigen „Ich bin jetzt da!“-E-Mails geschrieben und Termine ausgemacht habe. Heute habe ich noch frei. Mein Mitbewohner will mir ein bisschen die Stadt zeigen. Morgen habe ich dann den ersten Arbeitstermin.

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OMG…it’s cold!

Ich bin lebend und voll bepackt in Montreal angekommen und habe angefangen, mein Zimmer zu beziehen… wenn es doch nur nicht soooo kalt wäre 😉

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