Zu den Selbstvergewisserungen der Vernunft gehört die Macht der Konsistenz, des zwanglosen Zwangs des besseren Arguments und der vernichtenden Kraft des Widerspruchs. Die postmoderne Theoriebildung, die die Macht der Konsistenz in Zweifel zieht, ist damit von den vernünftigeren Plätzen aus, bloß ein Widersinn, eine (französische) Verrücktheit. – Ein Klischee? Natürlich ein Klischee, allerdings eines, das noch immer lebendig ist, ja noch schlimmer: das noch immer geglaubt wird. Noch ferner von der ‚Wahrheit‘ als die Behauptung, die postmoderne Theorie interessiere sich nicht mehr für Strenge, ist das Phantasma, dem Irrsinn sei mit Argumenten, ggf. noch besseren Argumenten, beizukommen. Es gelte ein fact checking zu unternehmen, die Gegner_innen zu widerlegen, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu konfrontieren und so weiter und so fort.[citation needed]
Es gerät seit einiger Zeit auch außerhalb französischer Verrücktheiten zum Gemeinplatz, dass dem Argument diese Kraft abhanden gekommen ist. Die existenten Erklärungsversuche will man nicht zur Kenntnis nehmen. Man wiederholt die Parolen der Vernunft und lässt so die ‚Postfaktizität‘ mit einem Gefühl der Ohnmacht zusammenfallen. Diese Ohnmacht lässt sich nicht leicht beseitigen, aber sie lässt sich in ein Verhältnis setzen: Fakten, facta, bezeichnen wahre Sachverhalte, die je nach Theorierahmen überdies noch wirklich, beweisbar oder wenigstens anerkannt sein müssen, um als Fakten zu zählen und sich von bloßen Fiktionen abzuheben. Eine Unwahrheit ließe sich dann einfach dadurch widerlegen, dass ihr ein solches Faktum gegenübergestellt wird, das ihr widerstreitet. Nach allen Regeln der Kunst wäre dies ein Argument, das einen Denkzwang auslöse und die Unwahrheit zerstöre. Nur: Die Empirie zeigt längst, dass dies nicht (mehr) funktioniert.
Wir müssen nicht zur Wahl eines Faschisten wider aller Vernunft greifen und sollten es vielleicht auch nicht, da die Analysen zu diesem Thema offenbar bereits Ermüdungserscheinungen verursachen (und Ermüdung könnte dem Faschismus den Sieg sichern). Wir können genauso die Homöopathie nehmen, die mit Widerlegungen seltener Eindeutigkeit und überwältigender Zahl überschüttet wurde, ohne zu ersaufen. Dieser Misserfolg, der alle Popper‘sche Forschungslogik in den Müll befördern müsste (eine Wissenschaftstheorie, die auch nicht zu ertränken ist), verlangt nach Erklärungen. Eine beliebte Erklärung ist, dass es sehr viel einfacher ist, ‚Bullshit‘ zu produzieren, als ihn zu widerlegen. Das mag stimmen, übersieht aber, da sie zu pauschal ist, eine Mikroeigenschaft des Bullshits: Nichts hindert daran, die Unwahrheit noch an Ort und Stelle zu wiederholen. Nichts hindert die Zuhörer_innen daran, die Unwahrheit einfach weiterhin zu glauben. Die Widerlegung entfaltet keine logische Kraft, die ihr nicht zugestanden wird und nichts zwingt dazu, ihr überhaupt irgendeine eine Kraft zuzugestehen.
Was aber, wenn diese ‚Unwahrheit‘ von vornherein nicht auf Ebene von Fakten anzusiedeln ist? Was, wenn es der Unwahrheit gar nicht darum geht, einen (empirischen) Sachverhalten (falsch) zu repräsentieren (und dies für Fakten auch nicht gilt)? Dies ist nicht nur möglich, sondern außerhalb wissenschaftlicher Auseinandersetzungen sogar wahrscheinlich. Wenn es aber nicht um die Repräsentation von Sachverhalten mit dem Ziel, Fakten zu identifizieren und mittels Theoriebildung schließlich zu prognostizieren, geht, muss die Rolle dessen, was noch immer als zu widerlegende Unwahrheiten aufgefasst wird, anders gefasst werden. Um sich aus der Umklammerung der Phantasmata logischer Konsistenz und empirischer Repräsentation zu befreien, ist zuallererst ein anderer Begriff erforderlich und aus einer gewissen Verlegenheit heraus, schlage ich vor, zur Aussage zu greifen.
Wozu dienen Aussagen, auf deren logische Zusammenhänge es nicht ankommt und die keinen empirischen Sachverhalt repräsentieren? Die Antworten der Philosophie – der analytischen wie der kontinentalen – sind zahlreich, so dass ich mir erlauben muss, nur eine Antwort herauszugreifen und die anderen für später aufzubewahren. Diese Antwort lautet: Aussagen sind Parolen. Parolen dienen der Orientierung, der Wiedererkennung, der Authentifizierung, der Selbstvergewisserung. Sie werden wiederholt, aber bewusst eingesetzt. Sie dienen der Unterscheidung von Freund und Feind. Von „build the wall“ bis „lock her up“ werden Gruppen konstituiert, Gegner exkludiert und Gewaltphantasien zum Gruppenerlebnis getrieben. Es kommt nicht auf die grammatische Form des Imperativs an und auch nicht auf die exakte Wiederholung, solange es einen gemeinsamen Bezugspunkt in den ‚Wiederholungen‘ gibt: „Die werden doch alle von der Pharmaindustrie bezahlt!“ oder „Die Flüchtlinge kriegen das Geld hinten und vorne reingeschoben auf Deutsch gesagt und für die deutschen Kinder ist nichts da!“ sind nun in jeder auch nur halbwegs sinnvollen Interpretation offenbar falsche Aussagen, also eigentlich Unwahrheiten. Dass die Widerlegung nicht funktioniert, sollte mittlerweile jeder mitbekommen haben. – Aber dazu dienen Parolen, wie gesagt, auch nicht. Sie werden auch nicht durch Wiederholung ‚wahr‘, ja, es ist nicht einmal nötig, dass die Sprecher_innen sich selbst von einer ‚Wahrheit‘ dieser Aussagen überzeugen. Wäre dies der Fall, würden Widerlegungen nicht völlig wirkungslos sein. Es ist daher dem Resultat postmoderner Theoriebildung eine gewisse Plausibilität zuzusprechen, dass für Parolen die Gruppeninszenierung und mehr noch die Orientierung von Handlungen ausschlaggebend ist. Die ‚Wahrheit‘ kommt als Anerkennung und nur als diese. Es sind Parolen, die Betroffenheiten erschaffen, sie in Hass übertragen, Zugehörigkeiten codieren und alle weitere Reden und schließlich handeln umlenken. Der Feind ist klar, die Kritiker_in ist der Feind, ich bin wohlmeinend und sage Dir, dass Koffein ausreichend verdünnt gegen Schilddrüsenkrebs hilft. – Merkel will uns islamisieren, aber jetzt schlagen wir zurück!