Über Widerlegungen

Zu den Selbstvergewisserungen der Vernunft gehört die Macht der Konsistenz, des zwanglosen Zwangs des besseren Arguments und der vernichtenden Kraft des Widerspruchs. Die postmoderne Theoriebildung, die die Macht der Konsistenz in Zweifel zieht, ist damit von den vernünftigeren Plätzen aus, bloß ein Widersinn, eine (französische) Verrücktheit. – Ein Klischee? Natürlich ein Klischee, allerdings eines, das noch immer lebendig ist, ja noch schlimmer: das noch immer geglaubt wird. Noch ferner von der ‚Wahrheit‘ als die Behauptung, die postmoderne Theorie interessiere sich nicht mehr für Strenge, ist das Phantasma, dem Irrsinn sei mit Argumenten, ggf. noch besseren Argumenten, beizukommen. Es gelte ein fact checking zu unternehmen, die Gegner_innen zu widerlegen, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu konfrontieren und so weiter und so fort.[citation needed]

Es gerät seit einiger Zeit auch außerhalb französischer Verrücktheiten zum Gemeinplatz, dass dem Argument diese Kraft abhanden gekommen ist. Die existenten Erklärungsversuche will man nicht zur Kenntnis nehmen. Man wiederholt die Parolen der Vernunft und lässt so die ‚Postfaktizität‘ mit einem Gefühl der Ohnmacht zusammenfallen. Diese Ohnmacht lässt sich nicht leicht beseitigen, aber sie lässt sich in ein Verhältnis setzen: Fakten, facta, bezeichnen wahre Sachverhalte, die je nach Theorierahmen überdies noch wirklich, beweisbar oder wenigstens anerkannt sein müssen, um als Fakten zu zählen und sich von bloßen Fiktionen abzuheben. Eine Unwahrheit ließe sich dann einfach dadurch widerlegen, dass ihr ein solches Faktum gegenübergestellt wird, das ihr widerstreitet. Nach allen Regeln der Kunst wäre dies ein Argument, das einen Denkzwang auslöse und die Unwahrheit zerstöre. Nur: Die Empirie zeigt längst, dass dies nicht (mehr) funktioniert.

Wir müssen nicht zur Wahl eines Faschisten wider aller Vernunft greifen und sollten es vielleicht auch nicht, da die Analysen zu diesem Thema offenbar bereits Ermüdungserscheinungen verursachen (und Ermüdung könnte dem Faschismus den Sieg sichern). Wir können genauso die Homöopathie nehmen, die mit Widerlegungen seltener Eindeutigkeit und überwältigender Zahl überschüttet wurde, ohne zu ersaufen. Dieser Misserfolg, der alle Popper‘sche Forschungslogik in den Müll befördern müsste (eine Wissenschaftstheorie, die auch nicht zu ertränken ist), verlangt nach Erklärungen. Eine beliebte Erklärung ist, dass es sehr viel einfacher ist, ‚Bullshit‘ zu produzieren, als ihn zu widerlegen. Das mag stimmen, übersieht aber, da sie zu pauschal ist, eine Mikroeigenschaft des Bullshits: Nichts hindert daran, die Unwahrheit noch an Ort und Stelle zu wiederholen. Nichts hindert die Zuhörer_innen daran, die Unwahrheit einfach weiterhin zu glauben. Die Widerlegung entfaltet keine logische Kraft, die ihr nicht zugestanden wird und nichts zwingt dazu, ihr überhaupt irgendeine eine Kraft zuzugestehen.

Was aber, wenn diese ‚Unwahrheit‘ von vornherein nicht auf Ebene von Fakten anzusiedeln ist? Was, wenn es der Unwahrheit gar nicht darum geht, einen (empirischen) Sachverhalten (falsch) zu repräsentieren (und dies für Fakten auch nicht gilt)? Dies ist nicht nur möglich, sondern außerhalb wissenschaftlicher Auseinandersetzungen sogar wahrscheinlich. Wenn es aber nicht um die Repräsentation von Sachverhalten mit dem Ziel, Fakten zu identifizieren und mittels Theoriebildung schließlich zu prognostizieren, geht, muss die Rolle dessen, was noch immer als zu widerlegende Unwahrheiten aufgefasst wird, anders gefasst werden. Um sich aus der Umklammerung der Phantasmata logischer Konsistenz und empirischer Repräsentation zu befreien, ist zuallererst ein anderer Begriff erforderlich und aus einer gewissen Verlegenheit heraus, schlage ich vor, zur Aussage zu greifen.

Wozu dienen Aussagen, auf deren logische Zusammenhänge es nicht ankommt und die keinen empirischen Sachverhalt repräsentieren? Die Antworten der Philosophie – der analytischen wie der kontinentalen – sind zahlreich, so dass ich mir erlauben muss, nur eine Antwort herauszugreifen und die anderen für später aufzubewahren. Diese Antwort lautet: Aussagen sind Parolen. Parolen dienen der Orientierung, der Wiedererkennung, der Authentifizierung, der Selbstvergewisserung. Sie werden wiederholt, aber bewusst eingesetzt. Sie dienen der Unterscheidung von Freund und Feind. Von „build the wall“ bis „lock her up“ werden Gruppen konstituiert, Gegner exkludiert und Gewaltphantasien zum Gruppenerlebnis getrieben. Es kommt nicht auf die grammatische Form des Imperativs an und auch nicht auf die exakte Wiederholung, solange es einen gemeinsamen Bezugspunkt in den ‚Wiederholungen‘ gibt: „Die werden doch alle von der Pharmaindustrie bezahlt!“ oder „Die Flüchtlinge kriegen das Geld hinten und vorne reingeschoben auf Deutsch gesagt und für die deutschen Kinder ist nichts da!“ sind nun in jeder auch nur halbwegs sinnvollen Interpretation offenbar falsche Aussagen, also eigentlich Unwahrheiten. Dass die Widerlegung nicht funktioniert, sollte mittlerweile jeder mitbekommen haben. – Aber dazu dienen Parolen, wie gesagt, auch nicht. Sie werden auch nicht durch Wiederholung ‚wahr‘, ja, es ist nicht einmal nötig, dass die Sprecher_innen sich selbst von einer ‚Wahrheit‘ dieser Aussagen überzeugen. Wäre dies der Fall, würden Widerlegungen nicht völlig wirkungslos sein. Es ist daher dem Resultat postmoderner Theoriebildung eine gewisse Plausibilität zuzusprechen, dass für Parolen die Gruppeninszenierung und mehr noch die Orientierung von Handlungen ausschlaggebend ist. Die ‚Wahrheit‘ kommt als Anerkennung und nur als diese. Es sind Parolen, die Betroffenheiten erschaffen, sie in Hass übertragen, Zugehörigkeiten codieren und alle weitere Reden und schließlich handeln umlenken. Der Feind ist klar, die Kritiker_in ist der Feind, ich bin wohlmeinend und sage Dir, dass Koffein ausreichend verdünnt gegen Schilddrüsenkrebs hilft. – Merkel will uns islamisieren, aber jetzt schlagen wir zurück!

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Anbiederung an den gesunden Menschenverstand

„Zu den Lehren der Hitlerzeit gehört die von der Dummheit des Gescheitseins. Aus wievielen sachverständigen Gründen haben ihm die Juden noch die Chancen des Aufstiegs bestritten, als dieser so klar war wie der Tag. Mir ist ein Gespräch in Erinnerung, in welchem ein Nationalökonom aus den Interessen der bayrischen Bierbrauer die Unmöglichkeit der Uniformierung Deutschlands bewies. Dann sollte nach den Gescheiten der Faschismus im Westen unmöglich sein. Die Gescheiten haben es den Barbaren überall leicht gemacht, weil sie so dumm sind. Es sind die orientierten, weitblickenden Urteile, die auf Statistik und Erfahrung beruhenden Prognosen, die Feststellungen, die damit beginnen »Schließlich muß ich mich hier auskennen«, es sind die abschließenden und soliden statements, die unwahr sind.“ [Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: Fischer, 1988, ¹⁵2004, S. 218]

Gerade erklärte mir jemand, dass Trump (also der neue Faschismus) in Deutschland nicht möglich sei, weil wir ein gutes öffentliches Schulsystem hätten.

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Die (un)beschädigte Demokratie

Die Demokratie sei beschädigt, verletzt worden. Die Demokrat_innen (im Gegensatz zu den Faschisten, nicht die Partei ist gemeint) müssten jetzt zusammenstehen. Man müsse kämpfen.

Ja, kämpfen schon, aber bitte gegen die richtige Gegner_in! Wo beschädigt es die Demokratie, wenn ein Faschist nach den geltenden Regeln gewählt wird, die zwar unlogisch sind, so aber doch nach alter Übung bestehen und von den unterlegenen Kandidat_innen vorab akzeptiert wurden?

Sofern wir unter Demokratie bloß eine Volksherrschaft sehen, die mit den Mitteln der Wahlen und der Abstimmungen die Frage löst, wer herrschen möge, solange ist alles in Ordnung. – Das merken natürlich auch die, die den Schaden an der Demokratie beklagen und entsprechend qualifizieren sie: es ist die ‚pluralistische‘, die ‚liberale‘ Demokratie, die beschädigt wurde. Das stimmt schon eher, muss aber vom unbestimmteren Demokratiebegriff unterschieden werden. So unbestimmt und daher in so großer Allgemeinheit ist die Demokratie erschreckend problemlos mit dem Faschismus vereinbar, wie das Beispiel San Marino zeigt, in dem 1923 die Faschisten gewählt und in den 1940er Jahren einfach wieder abgewählt wurden. Worin hätte sich die Herrschaft der NSDAP unterschieden, wenn 1933 die Mehrheitsverhältnisse noch etwas deutlicher zu ihren Gunsten ausgefallen wären? Dass der Reichskanzler vom Reichspräsidenten ernannt wurde, war damals verfassungskonform. Dass der Reichspräsident bei der Ernennung der Reichskanzler auf die Mehrheitsverhältnisse des Reichstags Rücksicht nimmt (die NSDAP hatte im November 1932 33,1% der Stimmen errungen und war damit stärker als SPD und Zentrum zusammen. Von Papens DNVP erreichte 8,3%, also in der Summa 41,4%), war verfassungsgemäße Übung und entsprechend ist es eine billige Selbstexkulpation, den Machtantritt der Regierung Hitler dem Reichspräsidenten anzukreiden, der für viele Deutsche damit einfach nur den Volkswillen erfüllte. Es ist zwar richtig, dass die Reichstagswahl im März 1933 bereits unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Staates stand, aber dennoch taugt das Ergebnis von 43,9% für die NSDAP und 8% für die KSWR (=„Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“, ein DNVP-dominiertes Bündnis) nicht für die These, der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler sei ganz und gar undemokratisch gewesen, auch wenn sie in consequentia natürlich demokratiefeindlich war.

Vielleicht sollten wir die Vernebelung aufgeben, bereits das Demokratieprinzip alleine sei hier das Thema: Die Demokratie schützt nichts und niemanden, wenn die Mehrheit des Wahlvolkes für den Faschismus stimmt. Aber schon die rhetorische Verengung des Problems auf das Demokratieprinzip nutzt den Rechten: Solange sie an Wahlen teilnehmen und die Macht gewinnen, da sie gewählt werden, haben sie dem bloßen Demokratieprinzip nach eine Legitimation zur Herrschaft. „Wir sind eine demokratische Partei“, ist nicht ohne Grund ein Topos der AfD, die sich überdies für mehr direkte Demokratie einsetzt, um mittels Angst, Hetze und Lügen, dafür aber mit großer Legitimation Brexit-artige oder noch schlimmere Dummheiten durchsetzen zu können. Solange wir das Problem des Faschismus als die Alternative „Demokratie vs. Faschismus“ ausgeben, rollen wir den faschistischen Parteien rote Teppiche aus. Die Hölle des 20. Jahrhunderts wäre durch kein Demokratieprinzip verhindert worden. Die Demokratie per se schützt vor keiner kleinen und vor keiner großen Dummheit. Kein Demokratieprinzip verhinderte den amerikanischen Faschisten und kein Demokratieprinzip verhinderte Putin, Duterte, Erdoğan, Orban oder den Brexit – im Gegenteil!

Nun endet der Charakter moderner Staaten nicht mit dem Demokratieprinzip. Für die BRD wären hier noch das Bundesstaatsprinzip, das Sozialstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip zu nennen. Vielleicht könnte und sollte man noch die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte nicht nur auf das Privatrecht (Lüth-Urteil), sondern auch auf ein allgemeines, über das bloße Recht hinausgehendes Wertesystem für ein Prinzip halten. Es scheint mir ein erhellendes Gedankenexperiment, zu fragen, ob die genannten Prinzipien ohne das Demokratieprinzip existieren können. Das Sozial- und das Rechtsstaatsprinzip sind zumindest auch unter einer wohlmeinenden absoluten Herrscher_in denkbar.

Wenn also gefordert wird, man müsse dagegen kämpfen, wenn ein Faschist Präsident der USA wird, eine kinderlose Adelige über Schießbefehle schwadroniert oder ein südostasiatischer Präsident in einen Blutrausch gerät, dann kommt es dafür nicht auf das Demokratieprinzip an. Es ist die Verteidigung anderer Prinzipien, die uns die Mittel für diesen Kampf bereit stellen können. Für Deutschland gibt die Verfassung einige weitere Prinzipien her, die wir alle verteidigen müssen, aber nicht verteidigen können, solange wir ‚nur‘ über Demokratie reden. Ihre Attribute wie ‚liberal‘, ‚deliberativ‘, ‚pluralistisch‘, ‚sozial‘, ‚rechtsstaatlich‘, … sind das, was in Gefahr geraten ist und ohne sie können wir unsere Zivilisation nicht gegen den Traum vom Führer verteidigen.

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Hilde Betty Thalheimer (1934–1942)

Stolperstein: Hilde Betty Thalheimer

In der Darmstädter Landwehrstraße befindet sich ein einzelner, einsamer Stolperstein:

Hilde Betty Thalheimer, * 26. September 1934, blieb in Nazi-Deutschland als ihre Familie 1939 in die USA floh. Wegen einer Sprachbehinderung wurde Hilde die Einreise in die USA verweigert. Im Alter von 5 Jahren kam sie in Waisenhäusern in Frankfurt unter, von wo sie am 16. September 1942 (keine 8 Jahre alt) nach Theresienstadt und gut 1½ Jahre später am 18. Mai 1944 nach Auschwitz verschleppt wurde, wo sie ermordet wurde.

Vergessen ist Teil der Vernichtung.

(Ich habe diesen Stolperstein im Februar 2016 zufällig entdeckt und auch wenn ich auf meinen täglichen Wegen durch Darmstadt an vielen Stolpersteinen vorbeikomme, hat mich dieser doch besonders bewegt. Ich gehe manchmal Umwege, um diesen Stein zu besuchen, so auch heute.)

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Willkommen in Deleuze‘ Jahrhundert, Mr. Trump

Ja, wie konnte das nur passieren? Trotz allen fact checkings, trotz der Enthüllungsvideos, der für alle sichtbaren Ausbrüche von Tobsucht, Hass und Sexismus auf Twitter, der ganzen Leitartikel und Kommentare, der mehr und auch mal minder durchdachten Argumente, der hübschen Meme und der Warnungen aus der Serie Die Simpsons? Hab ich etwas vergessen? Die Erklärungen sind reflexhaft und spielen das Spektrum üblicher Erklärungen ab: Trumps Wähler_innen sind stur, dumm, abgehängt, gegen das Establishment, arm, unausgebildet, unaufgeklärt, besorgt, verführt, belogen worden, in ihrer eigenen Filterbubble, wütende weiße Männer, arbeitslos, wählen Protest, sind nun für fünf Minuten in zorniger Wut glücklich, schneiden sich aber doch am Ende ins eigene Fleisch.

Kurz: Es sind genau die Erklärungen, die wir in eher wenigen Variationen seit Jahren kennen und die jedes Mal wiederholt werden, wenn rechte Kräfte irgendwo einen großen oder kleinen Sieg einfahren.

Aber für alle diese Erklärungen und die daraus abgeleiteten unzähligen Handlungsvorschläge ist mittlerweile unübersehbar, dass in den auf rationalen Diskurs setzenden Gesellschaften, den deliberativen Demokratien, kaum noch oder schon gar keine wirksamen Mittel mehr bereit stehen, um Wahlerfolge von „Irren(den)“ zu verhindern.¹ Eine „knappe Mehrheit der Vernünftigen“ gibt es nur in der Phantasie. Während gerade noch der Schock und die ersten Schuldzuweisungen durch den Blätterwald rauschen (natürlich liegt es an der political correctness und der intellektuellen Arroganz linker oder liberaler Eliten, woran sonst?), ist ab morgen mit ersten Analysen zu rechnen, die genau die Ambivalenz wiederholen, die all diesen Erklärungsmustern zugrunde liegt: die Bedeutung des Arguments hier, die postfaktische und (neo-/crypto-/proto-)faschistische Wählerschaft dort. Diese wurde über über die Folgen ihres Handelns nicht ausreichend aufgeklärt und muss folglich mehr und besser aufgeklärt werden. Das bisherige Scheitern dieser Aufklärung erklärt sich neuerdings aus der „postfaktischen“ Haltung dieser Wählerschaft: Wäre nur endlich das Argument überzeugend und zwingend genug, würde es endlich den postfaktischen Filterblasenschutzschirm aus FOX News und Intellektuellenfeindlichkeit, würden doch diese Leute einsehen, dass sie mit ihrem Hass gegen ihre eigenen Interessen handeln – womit sich „postfaktisch“ als eine Spielart der Erklärung „stur & dumm“ zeigt und analytisch genau gar nichts erreicht ist: Die Idee des rationalen Arguments bleibt unangefochten, es muss lediglich verbessert werden. Wir müssen wieder die Werte des Humanismus und der Aufklärung vermitteln! – Nebenbei bemerkt: „Fakten“ spielen in der politischen Theorie und im schulischen Gemeinschaftskundeunterricht eine Rolle, in der politischen Praxis not so much.

Wie wäre es, wenn wir einmal etwas anderes versuchten und diese Idee der Aufklärung durch rationale Argument, für deren Scheitern wir ein postfaktisches Phantom verantwortlich machen, aufgeben, und denen, die für Brexit, Orban, Trumpf & Co. stimmen, völliges Bewusstsein zuschreiben. Vielleicht scheitert die Aufklärung genau deshalb, weil sie diese über etwas aufklären wollen, was diese längst wissen? Ist dies nicht genau das Rätsel des Faschismus?

Nein, die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus gewünscht – und das heißt es zu erklären… [Deleuze&Guattari: Anti-Ödipus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977 (=Kapitalismus und Schizophrenie, Band 1), S. 331.]

Diese Menschen täuschen sich nicht. Auch die Deutschen täuschten sich damals nicht – von ein paar Deppen, die „Bescheid wussten“, vielleicht einmal abgesehen. Niemand wird ein Faschist, weil er sich über Ziele der Faschisten täuscht. Und diese Menschen werden nicht getäuscht. Worüber sollte Trump sie getäuscht haben? Hat er nicht genug irre Forderungen aufgestellt? Würden diese Forderungen weniger irre, wenn er noch verrücktere aufstellen würde? Jede Täuschung verlangt, dass etwas durch sie verborgen wird (und sei es eine Leere). Trump hat gesagt, dass er Ziele verfolge, die offenkundig den Interessen der Massen (auch der weißen Unter- und Mittelschicht) zuwider laufen. Wollen wir das bitte zur Kenntnis nehmen und nicht weiter so tun als sei der (zweifelsohne vorhandene) Sexismus so stark, dass der Verlust der Krankenversicherung billigend in Kauf genommen würde?

Die Frage scheint also erneut lauten zu müssen: Wieso wünschen diese Leute gegen ihre eigenen (ökonomischen, sozialen, kulturellen, …) Interessen? Was wünschen Sie? Worauf richtet sich ihr désir? Die Antwort kennen wir aber, auch wenn wir es nicht gerne zugeben: Sie wünschen sich den Faschismus, diese „Linie der reinen Zerstörung“ [Deleuze&Guattari: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992 (=Kapitalismus und Schizophrenie, Band 2), S. 701]. Das ist zu erklären: Woher kommt die Lust am Chaos, an der Zerstörung, an der Katastrophe? Deleuze und Guattari haben sich an einer Erklärung versucht, die ohne die Phantome der Verführung, der Dummheit und der Lüge auskommt. Vielleicht ist die Zeit für deren Neuentdeckung gekommen.

Ironisch bemerkte Foucault einmal, dass „das Jahrhundert einmal deleuzianisch“ genannt würde. Er meinte das 20. Jahrhundert, aber vielleicht gibt es noch mehr Gründe, diesen Namen für das 21. Jahrhundert zu reservieren. Hoffentlich nicht: Es wären sehr schlechte Nachrichten.

 

¹ Ja, ich schreibe „irr“. Das ist nicht ableistisch. Es wäre ableistisch, dieses Wort für Menschen mit bestimmten neurologischen und/oder psychiatrischen Eigenschaften oder Herausforderungen zu reservieren. Dazu schreibe ich ein anderes Mal etwas.

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Gut gemeint, nicht gedacht, schlecht gemacht

Auf Twitter flog gerade ein Bild von einer Postkarte vorbei, mit der BlutspendeDO (@klinikumdo) das Thema Blutspende mit einem antirassistischen Meme verknüpfte. Das war sicher gut gemeint, jedoch hat man wohl nicht gedacht und es daher ziemlich schlecht gemacht.

https://twitter.com/Korallenherz/status/793018439799635968

Um das Problem zu verstehen, muss man wissen, dass in Deutschland eine Reihe von Ausschlusskriterien definiert wurden, die bestimmte Menschen von der Blutspende dauerhaft ausschließen:

Nach den derzeit gültigen Richtlinien der Bundesärztekammer und weiteren Anordnungen sind Personen als Blutspender dauerhaft auszuschließen:

  • die sich in der Zeit von 01.01.1980 bis 31.12.1996 insgesamt länger als 6 Monate im Vereinigten Königreich Großbritannien und/oder Nordirland aufgehalten haben,
  • die einer Gruppe mit einem gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhten Risiko für eine HBV-, HCV- oder HIV-Infektion angehören oder dieser zugeordnet werden müssen (z.B. homo- und bisexuelle Männer, Drogenabhängige, männliche und weibliche Prostituierte, Häftlinge),
  • […]

Es sind also alle Menschen ausgeschlossen, die zwischen 1980 und 1996 in der Summa länger als sechs Monate im Vereinigten Königreich und/oder in Nordirland waren. Von Expats abgesehen, trifft das auf jede Brit_in zu, der vor dem 1. Juli 1995 geboren wurde, also im Grunde auf alle, die gegenwärtig wenigstens 21 Jahre alt sind.

Nun führt die Karte rechts unten mit „Kathy T.“ eine „Britin“ auf. Gut, man hat also eine Person aufgeführt, die aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit ziemlich wahrscheinlich ausgeschlossen ist. Übrigens wären auch Expats betroffen, die in den 16 Jahren jedes Jahr für im Schnitt 1,5 Wochen nach Hause gefahren sind – ein zugegeben sehr unrealistisches Szenario.

Wir dürfen also mit Recht davon ausgehen, dass auch Kathy T. nicht spenden dürfte. (Die möglichen Ausschlusskriterien des Malariagebiets Äthiopien und die dortige HIV-Prävalenz lassen wir mal außen vor.) Dann gibt es folglich auf der Karte eine Person, die offenbar nicht spenden darf. Wie sollen wir das verstehen? Es gibt zwei Optionen:

  1. Die Macher_innen der Karte finden den de-facto-Ausschluss von Brit_innen doof, weil es nicht „auf die Hautfarbe“ ankommt. [Tweet]
  2. Die Macher_innen haben einfach nicht nachgedacht – vielleicht weil Ihnen die Möglichkeit einer derartigen Regelung gar nicht in den Sinn kam.

Verfolgen wir zunächst Option 1: Die Macher_innen lehnen also herkunftsbezogene Diskriminierung von möglichen Blutspender_innen ab. Wer sollte dagegen sein? Nun, dann fragen wir mal nach: Was ist mit dem Totalausschluss von homo-/bi-sexuellen Männern („MSM“), die unabhängig von ihrem Risikoprofil ausgeschlossen werden? (Zum Hintergrund: Während die gemeine Hete promisk herumvögeln muss, damit sie rausfliegt, reicht für den Ausschluss der dreckigen Schwulen ein einziger Schwanz in einer beliebig langen monogamen Beziehung.) Der undifferenzierte Totalausschluss von MSM ist also, kurz gesagt, ein identitätsbezogener, aber praktisch nicht verhaltensbezogener Ausschluss, sofern wir den selbstzerstörerischen dauerhaften Verzicht auf Sexualität nicht für einen ernsthaften Einwand nehmen wollen. Stehen identitätsbezogene und herkunftsbezogene Gründe aber nicht beide gleichermaßen und beide zu Recht unter Verdacht? Wieso also dann nur den einen Grund zurückweisen, aber nicht den anderen? Antwort:

Ok, es geht also um Empfänger_innenschutz… Moment… Ging es nicht gerade um den Kampf gegen herkunftsbezogene Diskriminierung von Spender_innen? Was denn nun? Oder gibt es vielleicht einen Unterschied, ob es sich um britisches oder um schwules Blut handelt? Geht es im einen Fall um Antirassismus, im zweiten Fall aber um Empfänger_innenschutz? Dann würden die Macher_innen ja einen sachwidrigen Unterschied setzen, damit es mal zum Antirassismus taugt und mal doch wieder um Empfänger_innenschutz geht. Kurz: Es wäre pure Heuchelei! Oder geht es immer um Empfänger_innenschutz? Was macht dann aber die Britin auf der Karte? Dann wären wir bei Option 2: Sie könnten es nicht gewusst haben oder aus anderen Gründen übersehen haben. Das wäre vor allem peinlich, aber Fehler passieren nun einmal. Dann müsste man aber so konsequent sein und die Karte einstampfen, denn offenbar taugen die diskriminierenden Ausschlusskriterien bei der Blutspende in Deutschland nicht für antirassistische Werbeaktionen, da sie nur zum Preis der Homophobie möglich und damit von vornherein unsolidarisch wäre. Antwort:

Danke für die Antwort.

Heuchelei.

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N=1

1996 reichte Alan Sokal, ein britisch-amerikanischer Physiker, einen vorsätzlich sinnlosen Artikel bei einem Fachjournal ein, das sich postmoderner Kulturwissenschaft widmete. Das Fachjournal betrieb bekanntlich seinerzeit kein Peer-Review und veröffentlichte den vorsätzlich sinnlosen, aber letztlich ungeprüften Artikel. Sokal selbst reagierte auf seinen Erfolg mit einer weiteren Veröffentlichung, die das Zustandekommen der ersten Veröffentlichung darstellte und – wie von ihm geplant – eine Diskussion zu den wissenschaftlichen Standards der Geisteswissenschaften auslöste. Sokal resümierte die Angelegenheit in einem erfolgreichen, inhaltlich aber eher peinlichen Buch, in dem er den „Denkern der Postmoderne“ den Missbrauch der Wissenschaft vorwarf. Schließlich fand die „Sokal affair“ Eingang in jede noch so vulgäre Kritik an den Geistes- und Kulturwissenschaften – gerade auch in die Kritik, die noch heute von manchen allzu schnell zum Zorn neigenden Bloggern mit Hingabe betrieben wird. Mit einem simplen Experiment (N=1) war ein für alle mal entschieden, dass die Geistes- und Kulturwissenschaften kein Recht hätten, sich als Wissenschaften zu bezeichnen.

Warum ich das erzähle? Nun, auch die Atomphysik ist nun mit N=1 als unwissenschaftlicher Dünnschiss entlarvt worden, die nicht einmal die Grammatikalität von Sätzen, die Sokal immerhin noch eingehalten hatte, überprüft. Gut, nur ein Fall und nur eine Konferenz, aber den Beweisstandards der „Sokal affair“ folgend ist die Atomphysik damit endgültig und für alle Zeiten am Ende:

Nonsense paper written by iOS autocomplete accepted for conference

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Der pünktliche Cui Bono

An der TU Darmstadt beginnt dieser Tage mit dem Beginn der Vorlesungszeit des Wintersemesters auch die „Werbung“ für ein ganz besonderes Veranstaltungsformat: Interdisziplinäre Projekte in der Studieneingangsphase, in denen Studierende unterschiedlicher Fächer ein (allzu) komplexes Problem in einer fachlich heterogenen Gruppe bearbeiten sollen. Die hochschuldidaktischen Überlegungen und Hintergründe kann man hier nachlesen.

In den Jahren 2012–2014 war ich beim Institut für Philosophie als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Koordination des „Philosophie-Teils“ der Projektwoche verantwortlich. Ende 2013 führten wir eine Projektwoche seinerzeit zu einem Thema durch, das 2015 eine unerwartete, neue Aktualität erhielt, als zehntausende Menschen für die Balkanroute nach Mittel- und Westeuropa strömten und wir für einige Zeit nicht mehr ignorieren konnten, was wir (bis heute) im Mittelmeer anrichten. In der Projektwoche handelte es sich um die Aufgabe, ein Konzept zu entwickeln, um in kürzester Zeit eine große Zahl von Menschen versorgen (bekleiden, behausen, ernähren, …) zu können, die aus einem ungenannten Grund ihre Heimat verlassen mussten. Im Fokus waren dabei insbesondere Probleme der Koordination, der Versorgung, der Gesundheit, der Sicherheit etc.

Einige Wochen nach der erfolgreichen Durchführung der Projektwoche erschien in der Zeitung „Lesezeichen“ des AStA der TU Darmstadt auf Seite 7 eine Kritik an unserer Veranstaltung, die man hier nachlesen kann. Die Kritik war anonym, sparte nicht mit Vorwürfen, aber verdrehte – was uns besonders ärgerte – die Aufgabenstellung bis zur Unkenntlichkeit. Schon der Aufmacher der Ausgabe („TU Darmstadt findet Formel gegen Armut“) deutete an, dass die Autor*innen sich nicht wirklich mit der Aufgabe befasst hatten. Damals entschieden wir uns gegen eine Reaktion auf den Artikel: eine anonyme, abwegige Einzelmeinung eben.

Heute tauchte jedoch und zwar ziemlich pünktlich zur diesjährigen Bewerbung der Projektwoche der Artikel auf Facebook wieder auf. Man kann sich überlegen, ob es ein Zufall ist, dass der Text nicht vergessen wurde und ob vielleicht jemand eine Projektwoche, an der ich übrigens nicht mehr beteiligt bin, gerne in Verruf bringen möchte. Ich weiß es nicht. Diesmal habe ich mich aber dazu hinreißen lassen, eine Antwort zu formulieren und auf Facebook zu stellen. Ich dokumentiere meine Antwort im Folgenden:

Die damalige Kritik an dem KIVA-Projekt war abwegig und zeugte von einem völligen Missverständnis der damaligen Aufgabenstellung. Sie wurde von einer Person geschrieben, die weder das Projekt noch die gewählte Aufgabenstellung kannte. Was sich hier als „Kritik“ ausgibt, bezog sich offenbar ausschließlich auf die Bewerbung der Veranstaltung sowie einiger eher peripher wahrgenommener Aussagen. In der Folge geriet die „Kritik“ zu einer eher wirren Ansammlung von abwegigen Rassismusvorwürfen, die mit regelrecht irren(!) „Gegenvorschlägen“ vermischt wurde. Dagegen hätte schon ein eher kurzer Blick in das thematisch einschlägige UNHCR-Handbuch für Notfälle die Autor*in von diesem Holzweg abgehalten. Um ein vielleicht eingängiges Beispiel zu nennen: Gerade die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, dass die Vorstellung, durch welche Ereignisse auch immer könnte eine größere Zahl Menschen in sehr kurzer Zeit versorgt (behaust, bekleidet, ernährt, …) werden müssen, erschreckend realistisch ist. Die Aufgabenstellung zielte auch tatsächlich darauf, den Menschen in einem glücklicherweise hypothetischen Szenario ihre Grundbedürfnisse zu sichern und ihnen dadurch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zurückzugeben. Das hätte die Autor*in wissen können, hätte sie sich die Mühe gemacht, die Aufgabenstellung zu lesen. Stattdessen beklagt die Autor*in in einer Attitüde, die sie* wohl für „kritisch-reflektiert“ hält, dass die Aufgabenstellung den Geflüchteten nicht die notwendige Selbstorganisation zugetraut hätte, sondern sie (rassistisch) als „rückständig“ konstruiert hätte. Nun wird wohl jeder halbwegs verständige Mensch, dem die Bilder der Balkanroute noch vor Augen stehen, einsehen können, dass hungernde, frierende, knöcheltief im Schlamm stehende Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts, Bildungsgrads, Gesundheitszustands, … nicht primär an einer Vollversammlung, einem Plenum und einer anschließenden konsensual beschlossenen Resolution für den Weltfrieden interessiert sein werden, sondern tatsächlich um das nackte Überleben kämpfen. Die Forderung, man dürfe sich nur dann über Behausung, Bekleidung, Ernährung, … dieser Menschen Gedanken machen, nachdem diese in einen machtfreien demokratischen Willensbildungsprozess eingetreten sind, ist eine grotesk abwegige Forderung, die wohl nur einem völligen Mangel an Reflexion über den eigenen Wohlstand entstammen kann. Die Autor*in, die mir durch eine Indiskretion der damaligen Redaktion mittlerweile namentlich bekannt geworden ist, hat an der Veranstaltung seinerzeit nicht teilgenommen. Im Gegensatz dazu haben sich übrigens die Dozent*innen, die damals an der Planung und Durchführung der Projektwoche beteiligt waren, im letzten Jahr in der Flüchtlingshilfe engagiert, also die Frechheit besessen, sich tatsächlich die Finger schmutzig zu machen, um Menschen zu helfen. Die Position, man müsse angesichts der konkreten Not von Menschen, erst einmal die Machtstruktur des Spätkapitalismus reflektieren, erscheint mir bestenfalls fragwürdig. Ich halte es dagegen mit dem alten Brecht, der darauf bestand, dass vor der Moral noch immer das Fressen komme.

Die Autor*in wäre tatsächlich zu loben gewesen, wenn sie an der Veranstaltung kritisch teilgenommen und solche Fragen gestellt hätte. Sie hat nicht an der Veranstaltung teilgenommen, sondern sich anschließend einen überaus wirren Text zusammen phantasiert, der mit der tatsächlichen Veranstaltung selbst nicht viel zu tun hatte. Wir als Lehrende wünschen uns kritische Studierende, die ganz genau nachfragen und auch unsere (versteckten) Voraussetzungen in Frage stellen. Wir wünschen uns aber auch, dass die Kritik in einem sachlichen Zusammenhang zu dem steht, was kritisiert werden soll, und die Kritik in einer Weise vorgetragen, auf die sinnvoll geantwortet werden kann. Für eine Diskussion bin ich zu haben, für anonyme Rassismusvorwürfe jedoch nicht.

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Wozu sein?

Ich beklagte mich über die etwas nervige Auseinandersetzung mit dem Seinsbegriff (und dessen Univozität) bei Duns Scotus. @Sokalist_n fragte, wieso dieser Begriff überhaupt wichtig sei, was sich damit machen ließe und woher wir etwas darüber wüssten.

Ich glaube, mir ist eine halbwegs klare Antwort gelungen:

Natürlich wissen wir nichts über das Wesen des Seins in einem strengen Sinne (=wahre begründete Meinung). Der Begriff ist vielmehr relevant für eine Modellierungsstrategie, die die Ontologie betrifft, soweit sie für eine metaphysische Theoriebildung überhaupt noch relevant sein kann. Es gilt hierbei lediglich den Weltbezug in einer Art „Rest-Ontologie“ zu sichern: Wenn wir einen Weltbezug behaupten, dann müssen wir wenigstens die Form der existierenden Relata in der Welt hinreichend bestimmen. Wir können nicht behaupten, dass es außerhalb unseres Geistes irgendetwas gibt, ohne dass wir bereits damit behaupten, dass wir uns irgendwie darauf beziehen können. Solche Restbestände von Ontologie finden sich z.B. auch bei Kant, wenn er vom „Ding an sich“ spricht. Bei Deleuze, zu dem ich arbeite, spielt die „Differenz an sich selbst“ die Rolle des „Dings an sich“.

Deleuze macht also, kurz gesagt, die „Differenz an sich selbst“ zu einem Grundbegriff in seiner Modellierungsstrategie und bringt damit traditionelle Vorstellungen solcher „Rest-Ontologien“ durcheinander. Spricht man traditionell eher von Diesheiten und Einheiten, ersetzt Deleuze dieses durch Andersheiten und Vielheiten. Traditionell sind also „ens“, „idem“ und „unum“ konvertibel, bei Deleuze aber „ens“, „diversum“ und „multum“. Traditionell ist das „multum“ z.B. die Privation des „unum“: Vieles ist, was nicht eines ist. Deleuze will das „unum“ durch innerzeitliche Synthesen aus dem „multum“ gewinnen. Es ist eine Philosophie der Mannigfaltigkeit. Ebenso verhält es sich beim „idem“: Aus „Dieses ist, was nicht das andere ist“ wird ein „Dieses ist das andere“. Es ist eine Differenzphilosophie, die ohne den Satz von der Identität zu denken ist. Auch die Identität muss mit innerzeitlichen Vollzügen wiederhergestellt werden.

Ich bearbeite nun den Seinsbegriff (und dessen Univozität) bei Duns Scotus, da sich Deleuze selbst auf diesen bezieht, dessen Überlegungen aber wie gezeigt erheblich umarbeitet. Ziel ist es, sehr genau zu verstehen, wieso auch Deleuze das Sein univok nennt, aber dann trotzdem zu einer Philosophie der Differenz und der Mannigfaltigkeit gelangt. Für Deleuze ist es natürlich mit einiger Mühe verbunden, die Entscheidung, Identität und Negation (Kennzeichen einer klassischen Dialektik aus seiner Sicht) zurückzuweisen und zu einer radikalen Prozessontologie zu gelangen. Wenn man so vorgehen möchte, muss man ein Modell liefern und dazu bedarf es eines genauen Verständnisses der Modellierungsstrategien. Klar soweit?

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Full Spectrum Cyber: Wie ich einmal zurück wollte

Ich war vorhin auf einer WG-Party, auf der auch viele Nerds aus dem Umfeld des CCC beziehungsweise des lokalen Ablegers Chaos Darmstadt herumhüpften. Ich habe einige Leute, die ich lange nicht gesehen und oft vermisst habe, wieder gesehen und muss sagen, dass ich für einen Moment schwach wurde und überlegte, ob es nicht vielleicht doch ein Fehler war, diese Vereine hinter mir zu lassen.

Ich wurde allerdings gerettet. Ich wurde an eine Eigenschaft der Chaos-Nerds erinnert, die ich immer verabscheut habe: Die Haltung, man habe, wenn man nur einfach die Klischees der Club-Elite oder irgendwelcher Blogger nachplappere, schon recht und müsse sich Argumente erst gar nicht ernsthaft anhören. Konkret stieß ich auf ein besonders starrsinniges Exemplar, dass den Witz verteidigte, „Cyber“ sei in erster Linie ein lustiges, sinnbefreites Wort und man dürfe „Politiker“(!), die „Cyber“ sagen, bloß nicht ernst nehmen. Diese hätten keine Ahnung von technischen Zusammenhängen und das sähe man ja auch an dem neusten Wort „Clearnet“, das offenbar der Gipfel des Unverständnisses, was das Darknet sei, darstellte.

Der Punkt ist ja nun nicht, dass „Clearnet“ oder „Full Spectrum Cyber“ irgendwelche wohldefinierten Konzepte wären. Natürlich sind sie das nicht. Um was es gehen sollte, ist, dass diese Begriffe (a) auf eine lange Traditionslinie (z.B. „Cyber“ von [a1] Sciencefiction, [a2] kybernetischen Regierungsphantasien sowie [a3] Vorstellungen zur Zukunft des Krieges im zivilen Raum) zurückblicken, (b) eine, wenn auch verwaschene Bedeutung haben, (c) Wirkung haben: Es ist vollkommen unerheblich, ob ein Bundesinnenminister Probleme der Netzwerksicherheit technisch beschreiben kann. Es ist aber durchaus erheblich, welche Diskursformationen er wissentlich oder unwissentlich(!) reproduziert, wie Wahrheiten in seinem Themenfeld hergestellt, Expertisen zugeschrieben, Legitimitäten konstruiert oder Entscheidungen getroffen werden. Kurz: Es kommt auf das gesamte Spektrum politischer und somit diskursiver Prozesse an, die mit einem Reden darüber, dass eine Staatssekretärin mal nicht wusste, was ein Browser ist, noch nicht einmal angekratzt sind. Sicher kann man das lustig finden, aber es ist halt kindisch.

Diese Komplexitäten und Hintergründe führte ich gegen das bloße „Hehe, da sagt jemand »cyber«!“ ins Feld, verwies auf die Bedeutung von Diskursen und auch unwissentlicher Fortschreibung von Denksystemen. Besagtem Nerd entfuhr es aber, die Diskussion, wie ich sie führe, sei Schwachsinn, drehte sich um und er ließ mich stehen.

Ich muss ihm dankbar sein, hat er mich doch vor meiner eigenen Schwäche gerettet: Nie wieder will ich meine Zeit damit verbringen, Argumente an Leute zu verschwenden, die schon alles wissen, weil sie es bei einem bloggenden Choleriker gelesen haben. Sollen sie sich doch darüber lustig machen, wenn eine amerikanische Militärfirma „Full Spectrum Cyber“ sagt. Ich schüttele bei solchen Wortbildungen auch den Kopf, aber nicht weil ich mir einbilde, dass da nur Idioten sitzen, die nicht wissen, wovon sie reden. Ich sorge mich eher, weil sie vermutlich ziemlich genau wissen. Das kapiert einer, der schon über alles Bescheid weiß, aber nicht und ich sollte auch nicht mehr versuchen, es ihm zu erklären. Gut, dass ich das aufgegeben habe.

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