Kein Heiliger Gral der Texterstellung

Vielleicht haben sich einige gefragt, warum ich in letzter Zeit so wenig in diesem Blog geschrieben habe. Es gibt dafür zwei Gründe: Erstens habe ich wegen meiner Doktorarbeit, aber auch wegen meines neuen Jobs viel zu tun und zweitens habe ich mit einem Karpaltunnelsyndrom zu kämpfen. Es ist zwar nicht so schlimm, dass ich gar nicht mehr tippen kann, aber dennoch werden meine Hände – denn ich habe es auch noch auf beiden Seiten! – schnell müde. Ich musste daher mit meinen „Schreibkräften“ sparsam umgehen.

Nun lebe ich aber im 21. Jahrhundert: Vor etwa zwei Wochen habe ich mir eine Spracherkennungssoftware gekauft. Glücklicherweise sind diese Programme besser als ihr Ruf. Zugegeben: Sie machen eine ganze Menge Fehler und einige Fehler sind zum Schreien komisch. Ich musste mich also damit abfinden, dass ich mir nun nicht nur sehr genau überlegen muss, was ich schreiben will, da ich nun nicht mehr komfortabel zwischen verschiedenen Sätzen hin und her springen kann, sondern auch damit, dass ich nun einen zusätzlichen Korrekturdurchgang beim Erstellen von Texten einplanen muss. Es ist also keineswegs so, finde ich, dass Spracherkennungssoftware Arbeit spart. Das war allerdings auch nicht mein Ziel! Es ging mir nur darum, meine Hände zu schonen, indem ich möglichst viel Schreibarbeit durch Diktate ersetze. Das ist mir zwar gelungen, aber der Heilige Gral der Texterstellung ist mit Spracherkennungssoftware nicht zu finden. Und das ist auch der Grund, warum vermutlich auch in den nächsten Wochen in diesem Blog nicht
sehr viel passieren wird. Ich bitte also um Geduld.

PS: Der Neurologe meint, dass man Karpaltunnelsyndrom zur Zeit nicht operiert werden muss. Ich habe aber eine hübsche blaue Bandage bekommen, die ich nachts artig zu tragen habe. Ich bilde mir zumindest ein, dass es damit besser wird.

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Hacking Europe und ›Big Brother brutal zerhackt‹

2014-09-25 16.32.16_kleinDer Sammelband, in dem mein bereits 2011 eingereichter Artikel„Heroes yet Criminals of the German Computer Revolution“ zum Btx-Hack enthalten ist, ist jetzt offenbar endlich lieferbar. Jedenfalls hat mir der Verlag ein Belegexemplar von Hacking Europe geschickt. Ich bin ziemlich froh, dass dieser Sammelband nun fertig und auf dem Markt ist, denn es gibt eine kleine Geschichte zu den Mühen, die ich insbesondere mit diesem Artikel hatte. Die erzähle ich aber nur mal bei einem Glas Wein. Ihr könnt jetzt jedenfalls bei Euren Bibliotheken Anschaffungswünsche machen. Husch husch 🙂

Parallel dazu ist mein Artikel „›Big Brother brutal zerhackt‹ Rückblick auf den ersten Hackerparagraphen 1986“ jetzt im Satz, der in der ersten Ausgabe des neuen Jahrbuchs für Technikphilosophie Anfang 2015 erscheinen wird. In dem Artikel beleuchte ich die Geschichte um den Btx-Hack von einer anderen, nämlich einer rechtshistorischen Seite aus und gehe auch auf einige eher technikphilosophischen Aspekte der Geschichte ein.

Jetzt müsste ich nur noch endlich die Diss fertig machen… 😉

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Geschichten aus dem Schützengraben

Im Rahmen meiner Lehrveranstaltung Von IT-Security zu „Cyberwar“ und „Cyberpeace“ findet kommenden Montag ein Vortrag von Stephan Urbach zu Geschichten aus dem Schützengraben statt, auf den ich mich ganz besonders freue. Wer Interesse auf das Thema mitbringt, ist herzlich eingeladen. 🙂

Datum: Montag, 23. Juni 2014, 16:15-17:55
Ort: TU Darmstadt, S1|15/133 (Alexanderstraße 10, in Darmstadt)

Referent: Stephan Urbach (Berlin)

Beschreibung:

Geschichten aus dem real existierenden Cyberwar.
Oder was Militärs dafür halten. Eine Einordnung der Erfahrungen bei Telecomix, einem Zusammenschluss von Netzaktivisten, die unter anderem durch Ihr Engagement während des arabischen Frühlings bekannt wurden.

Zum Referenten: Stephan Urbach, lebt und arbeitet in Berlin als freier Autor. Er hat Deutsch und Geschichte studiert und abgebrochen, dann als Bankkaufmann und bei AOL gearbeitet, bevor er zur Berliner Piratenfraktion als Referent kam. Er hat mit Telecomix während der Aufstände im arabischen Frühling Menschen vor Ort mit Infrastruktur unterstützt. Er beschäftigt sich mit Transnationalität, Cyborgism/Transhumanismus, Menschenrechten, Internetgovernance. Eine Monographie zu seiner Zeit bei Telecomix ist in Vorbereitung und für 2015 geplant.

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Das sozial-biologische Sex-Gender-Konstrukt

Seit einigen Jahren wird die Diskussion, ob die sexuelle oder geschlechtliche Identität eines Menschen nun biologisch determiniert oder sozial konstruiert sei, schriller: Zwei schwarz-weiße Meinungen stehen sich unversöhnlich gegenüber und die Protagonist*innen dieser Diskussion nerven, wenigstens mich, damit wahnsinnig. Kann man die Diskussion bitte beenden? Die Antwort ist nämlich überaus einfach:

Sexuelle oder geschlechtliche Identität ist sowohl biologisch determiniert, als auch sozial konstruiert. Es ist ein Gemisch. Was ist daran bitte so schwer zu begreifen?

Natürlich gibt es biologische Faktoren, die sich durch Dekonstruktion, Reflexion, Analyse, Diskussion und Emanzipation nicht verändern lassen. Penis und Hoden werden dadurch ebenso wenig wachsen wie wie eine Gebärmutter nebst Eierstöcken auf den Plan treten. Ebenso unterscheiden sich Menschen hinsichtlich ihrer Hormonhaushalte, ihrer Körperbehaarung, ihrer Bindegewebsstruktur, … – es gibt hier echte, wirksame und nur schwer veränderbare Faktoren und natürlich gilt es, dass wir unsere Körper vorfinden und irgendwie mit ihnen fertig werden müssen.

Dass wir aber überhaupt mit unseren Körpern fertig werden müssen, das ist ein soziales Konstrukt: Die Behauptung, dass es biologische Faktoren gibt, ist vollständig kompatibel mit der Behauptung, dass die Zuordnung der biologischen Faktoren zu genau zwei Geschlechtskategorien die Realität biologischer Faktoren falsch darstellt und dass hieraus gezogene Folgerungen bestenfalls kontingent sind. Dass es einen Unterschied zwischen der Struktur realer Sachverhalte und der in unseren Theorien dargestellten Sachverhalte geben kann und in der Regel auch gibt, ist eine so triviale Aussage, dass wohl nur religiöse Fanatiker*innen daran einen sinnvollen Zweifel haben können. Letztlich ist es aber die Biologie, die Medizin und ihre jeweiligen Teildisziplinen selbst, die eine ganze Menge Faktoren benennen können, die die Behauptungen von der Geschlechtsbinarität Lügen strafen. Man mag sich allenfalls darauf einlassen, dass es in einem Kontinuum von Eigenschaften, die biologisch determiniert sind, Kombinationen gibt, die häufiger sind als andere. Tatsächlich korreliert eine bestimmte Form des Haarausfalls mit dem Vorhandensein von Hoden. Ja und?

Wir haben es also offenbar mit einem unglaublich langweiligen Problem zu tun: Das Medium realer Körperlichkeit kennt Faktoren, die durch das Medium gedachter Körperlichkeit nicht (vollständig) dargestellt werden. Die Vorstellung, es gäbe genau zwei Geschlechter, ist aber nun genau dieses: eine Vorstellung, d.h. sie findet im Medium gedachter Körperlichkeit statt und dies ist der Ort einer sozialen Konstruktion. Erstens ist dieses Medium der Vorstellung nämlich nicht individuell, sondern – allein aufgrund seiner sprachlichen Verfasstheit – kollektiv. Ohne den Zusammenhang von Sprache und Vorstellungsvermögen diskutieren zu wollen, darf nicht übersehen werden, dass Sprache stets etwas kollektives ist, das als eine Art – Achtung: Metapher – wabernde Mannigfaltigkeit von allen Teilnehmer*innen an einer Sprache geteilt, aber jeweils unterschiedlich aktualisiert wird. Derartige, gemischte Zustände sind in den Geisteswissenschaften übrigens recht gut untersucht und verstanden. Es handelt sich um Diskurse oder in der von mir bevorzugten Sprache um kollektive Äußerungsgefüge. Die formalen Wissenschaften können das auch untersuchen, sofern sie sich nicht aus bloßer Sturheit anstellen und an einem wirren Kryptoplatonismus festhalten wollen, aber zurück zum Problem: Zweitens bestimmt das Medium der Vorstellung, wie überhaupt konkrete Theorien geformt werden – sowohl hinsichtlich der Möglichkeit ihrer Form, als auch hinsichtlich der Wahrscheinlichkeiten ihrer Inhalte: Das kollektive Äußerungsgefüge macht gewissermaßen Vorschläge, wie ein äußeres Medium in der Reflexion zu ordnen ist. Wenn es also in Binaritäten organisiert ist, ist die Wahrscheinlichkeit, Unterschiede im äußeren Medium als Binaritäten zu organisieren, um einiges größer.

Das wäre alles kein soziales, sondern allenfalls ein wissenschaftlich-methodisches Problem, würde sich es auf die Wissenschaft beschränken und sich nicht in einer großen Zahl offensichtlich nicht-biologischer Felder aktualisieren: Es besteht absolut kein logischer Zusammenhang zwischen der Form der körperlichen Verfassung und Verortung der Gonaden und dem Kleidungsstil. Tatsächlich benötigen Hoden ein etwas kühleres Klima und sollten nicht eingeklemmt werden, während die im Inneren des Körpers liegenden Eierstöcke diese biologisch-medizinische Randbedingung nicht zu haben scheinen. Nun, tragen etwa Hoden-Besitzer*innen Röcke? Nein? Och…

Den Zusammenhang zwischen getrennten Toiletten, verschiedenen Kleidungsstilen, unterschiedlichen Einkommen, anderen Fahrradrahmen… mit Verfassung und Verortung der Gonaden plausibel zu machen, dürfte ein eher schwieriges Problem werden: Jede Hoden-Besitzer*in, die einmal Bekanntschaft mit der Querstange gemacht hat, dürfte nachvollziehen können, dass dieses Design vermutlich keine so sonderlich gute Idee gewesen ist. Wenn es hier einen biologischen Zusammenhang geben sollte, hätte uns die Natur wenigstens äußerst übel mitgespielt…

Der Verweis auf die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit verweist nun genau auf diese Fallstricke einer Praxis. Die Diagnose, dass etwas „sozial konstruiert“ sei, bedeutet nicht, dass es aus dem Nichts heraus erfunden wurde und dem Konstrukt keinerlei Sachverhalte in der Realität entsprechen. Die Diagnose bedeutet, dass die Vorstellung mit gegenüber den realen Sachverhalten kontingenten Prädikaten angereichert wurde und damit gegenüber einer Minimaltheorie überschüssig ist. Die Diagnose ruft damit letztlich das Ockham’sche Rasiermesser auf: entia non sunt multiplicanda sine necessitate. Die Relation zwischen Verfassung und Verortung der Gonaden und dem zugeordneten Kleidungsstil ist genau so eine unnötige Vervielfachung. (Wer nun darauf verweist, dass Relationen keine Entitäten sind, darf die gesamte Literatur der Spätscholastik auf Lojban übersetzen.) Ich möchte sie daher als „Scheinrelation“ bezeichnen. Scheinrelationen nenne ich Relationen, die nicht einen realen Sachverhalt repräsentieren, sondern sich bloß aufgrund ihrer Position im kollektiven Äußerungsgefüge und damit letztlich selbstreferentiell behaupten.

Die Praxis interessiert sich natürlich wenig für wissenschaftsphilosophische Sparsamkeitsprinzipien, sondern sie produziert Gewohnheiten, in denen kontingente Zusammenhänge festfrieren. Ein schönes Beispiel wäre vielleicht, die Schrift, in der Sie gerade diesen Text lesen: Es gibt absolut keinerlei logische Notwendigkeit dafür, dass das Graphem des Buchstabens „a“ so aussieht, wie es eben aussieht. Würde ich stattdessen aber konsequent ein Graphem setzen, das vielleicht wie das Graphem „α“ aussieht, würden Sie es wohl als falsch empfinden. Sie werden aber wohl zugeben, dass es sich dabei um eine bloße Gewohnheit handelt. Die einzige logische Notwendigkeit, die hier zu finden ist, ist die, überhaupt eine Darstellungsweise wählen zu müssen. Dass es eine Darstellung geben muss, ist für die Schriftsprache eine logische Notwendigkeit, aber wie diese Darstellung aussieht, ist eine Gewohnheit, die nicht selten als Konvention bezeichnet wird.

Nicht grundsätzlich anders operiert das sozial-biologische Sex-Gender-Konstrukt: Es gibt ein Feld durchaus biologischer Notwendigkeiten, etwa dass nur Gebärmutter-Besitzer*innen in der Lage sind, schwanger zu werden, oder sich wenigstens einige Jahre regelmäßig mit der Mensis plagen müssen. Es gibt aber ebenso und vermutlich noch mehr sozial konstruierte Kontingenzen, die allenfalls Gewohnheiten sind, etwa dass Gebärmutter-Träger*innen keine Querstange am Fahrrad haben.

Die Frage ist also natürlich nicht, ob die sexuelle oder geschlechtliche Identität nun biologisch oder sozial konstruiert ist. Sie ist natürlich beides und die Darstellung beider Seiten findet im Medium der Sprache statt, die schon Darstellungsoptionen vorgibt. (Daher auch die Obsession mit der „geschlechtergerechten Sprache“, die von den Biologist*innen mit noch größerer Vehemenz bekämpft als von den Konstruktivist*innen gefordert wird – stimmt’s? Sie haben sich gleich geärgert, dass ich „Hoden-Besitzer*innen“ geschrieben habe, oder? Sie haben bestimmt spontan die Sprachästhet*in sich entdeckt? Prima: Kommentieren Sie, aber bitte im Versmaß, Sie Sprachästhet*in.)

Die interessante Frage ist allenfalls, wie die beiden Pole des sozial-biologischen Sex-Gender-Konstrukts genau zusammenhängen, wie Zuschreibungen beider Seiten aneinander funktionieren, welche Scheinrelationen es gibt, welche Notwendigkeiten es formal und material hier wie dort gibt und welche „Notwendigkeiten“ in Wahrheit™ kontingente Gewohnheiten sind. Die Geschlechterforschung hat immer wieder gezeigt, dass praktisch alle vormals für real befundene Aspekte von sexueller oder geschlechtlicher Identität zu einem guten Teil Effekt einer sozialen Konstruktion sind und daher mittels Reflexion und Dekonstruktion der Änderbarkeit zugeführt werden können. Wird etwas als Scheinrelation erkannt, verliert es seine Überzeugungskraft. Daran trotzdem festhalten zu wollen, hat etwas von einem religiösen Dogmatismus.

Diese Diagnose bringt den objektiven Unterschied zwischen all den realen Körpern ebenso wenig zum Verschwinden, wie sie eine Ebene der reinen Biologie freilegt, die schließlich ohne soziale Konstruktion auskäme. Das sozial-biologische Sex-Gender-Konstrukt ist ein Gemisch und wird es bleiben. Es wäre schön, wenn wir dieses Gemisch untersuchen könnten und ich nicht ständig den Dünnschiss lesen müsste, Geschlecht wäre ausschließlich eine soziale Konstruktion oder ausschließlich biologisch determiniert. Beides stimmt nicht. Und keine Wissenschaftler*in dürfte heute noch eine der beiden Thesen ernsthaft vertreten. Sich gegenseitig inkonsistente Strohmann-Argumente an den Kopf zu werfen, ist aber nun nur eines: dumm.

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Das Scheitern der Piraten in der Analyse

Das Scheitern der Piraten, eine funktionsfähige Partei zu formen, ruft derzeit viele Analysen hervor, die mal mehr, mal weniger wirr versuchen, eine plausible Theorie der Funktionsweise von Parteien zu formen. Ich habe davon ein paar gelesen, aber bei weitem nicht alle. Sie sind einfach zu langweilig, denn sie stimmen alle in einem Punkt überein: Sie stellen die Machtfrage nicht oder sie stellen sie – noch schlimmer! – falsch:

Das Problem der Piraten war und ist, komplett unfähig zur Anerkennung expliziter Machtformen zu sein. Macht ist bekanntlich irgendwie böse, muss eingekreist, kontrolliert, bekämpft und nach Kräften vermieden werden. Hat man diese so abstrakte wie unterkomplexe Machtkritik aber ideologisch verinnerlicht, ist man nicht nur nicht mehr zur Anerkennung von Mehrheitsentscheidungen in der Lage, die stattdessen als „Unterwanderung“ erscheinen müssen, sondern behauptet auch in geradezu katholischer Realitätsverleugnung, dass implizite Machtstrukturen keine Rolle spielen und spielen dürfen.

Nun, implizite Machtstrukturen gibt es immer, gab es immer, wird es immer geben. Sie entstehen permanent von selbst, schreiben sich keinem Individuum zu und besitzen stets ihre eigenen Dynamiken und Eigengesetzlichkeiten. Sie reichen von einem selbstreferentiellen Ansehen, was die Nerd-Szene in geradezu lächerlicher Verkennung der eigentlichen Begriffsbedeutung gerne „Meritokratie“ nennt und für die Abwesenheit von Macht hält, bis hin zu gewaltförmigen Kommunikationsstrukturen und Redeweisen. Gerade die grotesk aufgeladene Abwehr genderinklusiver Sprachpraktiken ist nicht ein Zeichen eines ubiquitären Maskulinismus (auch wenn es solchen zweifelsohne gibt), sondern eine Abwehr, die sich der eigenen ideologischen Neutralität versichert. „Postideologisch“ bedeutet bekanntlich nur, die eigene gesellschaftliche Position nicht nur nicht verstanden zu haben, sondern auch auf Teufel-komm-raus nicht reflektieren zu wollen. Dass man sich damit impliziten Machtformen ausliefert, liegt zwar auf der Hand, darf aber im Namen der eigenen anarchistischen Ideologie nicht anerkannt werden. Dass sich dies nun auch in der Analyse des Scheiterns verbietet, liegt auf der Hand: Lieber soll die Partei untergehen, als dass man die eigene Position hinterfragen müsste. Die Macht selbst interessiert sich freilich für solche Kindereien nicht und verfolgt ihre eigenen Bewegungen, die sich nicht selten in einer wirren und immer schnelleren Modulation von Empörung entladen. Es braucht dann nur eine eher langweilige, wenngleich nicht sonderlich hilfreiche Aktion wie #bombergate, um die aufgeladene Empörungsmaschine in Bewegung zu setzen. Die psychische Entladung, die hier nackte Frauenbrüste ausgelöst hatten, hätte nicht wenige psychoanalytische Fallstudien inspirieren können.

Die Geschichte der Macht ist die Geschichte der Versuche, sie zu zähmen. Die wenigen Fälle, in denen diese Versuche geglückt sind, schreiben die Geschichte der Explikation von Macht, nicht ihrer Umhüllung. Die Organe des Rechtsstaates sind keine Umhüllung (Sublimierung) von Macht, sondern ihre Explikation, d.h. Aktualisierung in transparenten Strukturen. Sie beseitigen oder ersetzen Macht nicht, sondern materialisieren Macht, um ihre Eigengesetzlichkeiten disponibel zu machen. Sie macht aus der Macht als indisponibler Natur menschlicher Kommunikations- und Handlungsvollzüge eine disponible Machttechnik. τέχνη bedeutet auch „Kunstfertigkeit“. Die anarchistische Piratenideologie – am meisten in ihrer neoliberalen Spielart, aber durchaus auch in ihrer linken Spielart – wollte das nicht sehen und hat sich damit den Eigengesetzlichkeiten impliziter Macht ausgeliefert. Um zum Abschied eine nautische Metapher zu bedienen: Wer nicht akzeptieren mag, dass die Schifffahrt längst zu einer Ingenieurskunst geworden ist, möge sich bitte nicht wundern, der Willkür der Gezeiten ausgeliefert zu sein und in ihnen abzusaufen.

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Frau Maischberger und der Selbstmord

Trigger-Warnung: Es geht im Folgenden um Homo- und Transphobie, Hass, Depressionen, Gleichgültigkeit und Suizid.

Jede Person, die in den letzten vier Jahrzehnten nicht unter einem Stein gelebt hat, sollte auf die eine oder andere Weise mit performativen Sprachtheorien in Berührung gekommen sein. Sollte – denn es scheint noch immer erklärungsbedürftig, was Austin (1962, dt. 1972), Searle (1969, dt. 1971) oder in neuerer Zeit beispielsweise Butler (1997, dt. 1998) beschrieben haben: Sprache ist nicht einfach informativ, sondern grundsätzlich auch performativ. Dieser Satz hat es mittlerweile, über einen kommunikationspsychologischen Umweg durch Watzlawick und Schulz von Thun, in die Unterrichtsmaterialien der gymnasialen Oberstufe geschafft: Neben einem Sachinhalt hat eine sprachliche Äußerung stets auch einen Beziehungsinhalt, eine Selbstoffenbarung und einen Appellcharakter. Die genannten Theorien entscheiden sich alle in wichtigen Überlegungen, stimmen aber alle in einem wesentlichen Punkt überein: Sprache hat Handlungsmacht. Eine Richterin, die einen Angeklagten verurteilt, informiert ihn nicht, sondern sie verurteilt, indem sie das Urteil spricht. Ein Standesbeamter informiert nicht über die Heirat, sondern er verheiratet, indem er die Verheiratung erklärt. Eine Lehrerin informiert sich nicht, wenn sie Vokabeln abfragt, sondern sie kontrolliert, indem sie Befehle erteilt. Ein Troll informiert nicht über eine Beleidigung, sondern er will beleidigen, indem er eine Beleidigung ausspricht. – Gewiss, wir haben es hier mit sehr heterogenen Beispielen zu tun, die teils auf ein rechtliches Gefüge (Richterin, Standesbeamter), teils auf ein Herrschaftsgefälle (Lehrerin), teils auf einen inneren psychischen Zustand zielen (Troll), aber in allen Fällen handelt es sich nicht um die Übertragung einer Information, sondern um eine Handlung, die in Sprache stattfindet und die auf eine Veränderung zielt: Die Veränderung eines rechtlichen Status, die Unterwerfung unter eine Leistungskontrolle, die Erschütterung einer emotionalen Verfassung. Weinende Angeklagte mag so manche_r aus Filmen kennen, Frust über verpatzte Vokabeltests vielleicht am eigenen Leib und wer einmal an einen Troll geraten ist, der einen wunden Punkt erwischte, muss ohnedies nicht weiter über diese Sachverhalte aufgeklärt werden. Wie seltsam subtil diese emotionalen Trigger sein können, können sogar Maskulinisten erkennen, die es in diesem Text bis an diese Stelle geschafft haben: „manche_r“ enthält praktisch keine Information für den Sachinhalt und reicht doch, dass so mancher Mann regelrecht rot sieht.

Wenig überraschend inspirierte dieses Wissen eine Kultur der Trigger-Warnungen. Es gibt Menschen, die bei (für sie) heiklen Wörtern, bei (für sie) heiklen Themen eine emotionale Reaktion haben – selbst dann, wenn diese nicht von Sprecherin oder Schreiberling beabsichtigt wurde, so dass es sich immer mehr einbürgert, bei solchen Themen vorab zu warnen. Sprache kann verstören, zumal Menschen, deren emotionale Stabilität aus welchen Gründen auch immer gefährdet sein mag.

Journalist_innen wissen das eigentlich: Die Pressekodizes vieler Journalistenverbände gebieten eine Zurückhaltung bei Themen, die im Verdacht stehen, Menschen unnötig zu destabilisieren. Namentlich beim Thema Suizid: Obzwar nicht gänzlich unumstritten, akzeptieren die meisten Journalist_innen die Möglichkeit eines Werther-Effekts – schon der Bericht über Suizid kann eine Suizidwelle auslösen oder beschleunigen. Dass es diese Zurückhaltung gibt, zeigt sich bereits daran, dass in der Europäischen Union jedes Jahr mehr Menschen durch Selbsttötung als durch Verkehrsunfälle ihr Leben verlieren. Während aber die mediale Berichterstattung kaum über Suizide berichtet, vergeht kein Tag ohne Meldungen über tödliche Verkehrsunfälle. Es ließen sich weitere Beispiele finden, dass schon die mediale Berichterstattung, also letztlich das Lehrbuchbeispiel einer idealerweise interesselosen Information, Handlungskraft bis hin zur Begünstigung oder gar Verursachung von Selbsttötungen entfalten kann. Es zeigt sich: Sprache kann (indirekt) töten.

Es scheint gleichwohl klar und plausibel, zumindest weisen verschiedene Statistiken und Studien darauf hin, dass die meisten Menschen, die durch Sprache sogar noch in ihrem Lebenswillen angegriffen werden können, Symptome einer Depression aufweisen. Es geht mir hier nicht um eine Kritik an der gesellschaftlichen Rezeption des Krankheitsbildes „Depression“, sondern ich möchte das Prädikat „depressiv“ als einen argumentativen Angelpunkt verwenden. Wir wissen, dass depressive Menschen eine höhere Selbsttötungsgefährdung haben als nicht-depressive Menschen. Wir wissen, dass depressive Menschen eher emotional instabil sind und wir wissen, dass emotional instabile Menschen sich schlechter dagegen schützen können, durch Sprache „getriggert“ zu werden. Wir können uns also wohl den Schluss erlauben, dass depressive Menschen eine größere Gefährdung haben, dass Sprache sie (indirekt) tötet.

Wir wissen aus vielen Studien, dass lsbtiq-Jugendliche häufiger Suizid versuchen oder begehen als heterosexuelle Jugendliche. Die Ursache hierfür im wenig auf Akzeptanz gerichteten schulischen, kirchlichen oder leider auch oft familiären Umfeld zu sehen, dürfte allen billig und gerecht denkenden Menschen sofort plausibel sein, auch wenn sie von offen homophober Seite bestritten wird. Es ist mag überaus ekelhaft und heuchlerisch sein, selbst zu einem Missstand nach Kräften beizutragen, um dann diesen Missstand als Argument für die eigene Beförderung des Missstandes heranzuziehen, aber für mein materiales Argument ist das hier eher unerheblich: Die höhere Suizidalität unter lsbtiq-Jugendlichen wird nicht einmal von homophober Seite bestritten. Da wir nun wissen, dass depressive Menschen eine erhöhte Suizidalität aufweisen, dürfen wir schließen, dass lsbtiq-Jugendliche öfter depressiv sind als heterosexuelle Jugendliche. Das ist also ein unbestrittenes empirisches Faktum und namentlich Frau Maischberger wurde hierauf im Vorfeld ihrer Sendung offensichtlich deutlich hingewiesen. Ihre Redaktion hätte dazu schließlich nur die Texte ihrer homophoben Gäste zur Kenntnis zu nehmen brauchen. Die Unterstellung, ihre Redaktion betriebe diese Form der Recherche, bitte ich mir nachzusehen. Kurz, wir dürfen annehmen, dass Sandra Maischberger weiß, dass lsbtiq-Jugendliche häufiger depressiv und stärker suizidgefährdet sind als heterosexuelle Jugendliche. Wir müssen nun aber schließen, dass lsbtiq-Jugendliche eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, dass Sprache sie (indirekt) tötet.

All dies hat Sandra Maischberger aber nicht davon abgehalten, Gäste in ihre Talk-Show einzuladen, die nicht für ihre sachliche Diskussion – sofern man das Bestreiten der Menschenwürde ganzer Bevölkerungsteile überhaupt sachlich diskutieren kann – bekannt sind, sondern für ihre emotionalisierte Polemik und ihren Hass. Sandra Maischberger musste also annehmen, ihre Gäste würden auf eine Art und Weise über Homo- oder Transsexualität reden, die geeignet ist, depressive lsbtiq-Jugendliche zu „triggern“, so dass es wenigstens wahrscheinlicher würde, dass diese nach dem Ansehen ihrer Sendung einen Selbsttötungsversuch unternehmen. Hier herrscht sicher kein Determinismus, aber die Verschiebung der Wahrscheinlichkeit ist offenkundig und was wahrscheinlicher ist, realisiert sich trivialerweise mit einer höheren Wahrscheinlichkeit. Es ist also durchaus möglich, dass am heutigen Tage ein Mensch nicht mehr lebt, der noch leben würde, hätte Sandra Maischberger nicht ihre Quote über die Menschenwürde gestellt. Selbst wenn es nicht so ist, was ich sehr hoffe, hat sie, so sie nicht völlig blind ist, den Eintritt dieses Sachverhalts im Eigeninteresse billigend in Kauf genommen. Stellte sie das Eigeninteresse nicht über die Würde anderer Menschen, hätte sie nicht die übelsten Scharfmacher der Debatte eingeladen.

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Der Fußballspieler und der cis-hetero

Es ist ja irgendwo schon gut, dass sich so viele (cis-hetero)-Menschen um mich herum wundern, dass es eine Zeitungsmeldung wert ist, wenn sich ein Profifußballer als schwul „outet“. Es zeigt, dass in weiten Teilen dieser Generation eine angenehme Entspannung eingetreten ist. Schwul – so what? Das Thema ist nicht mehr abendfüllend.

Stimmt, allerdings stimmt es vor allem für die größeren Städte und besser gebildete Schichten. Für viele junge Schwule und ganz besonders auch die noch viel weniger sichtbaren Lesben – überhaupt für das ganze lsbtiq-Spektrum – stimmt es nicht, gerade wenn sie auf dem Land hocken oder sich nachmittags eher auf dem Bolzplatz oder abends vor der Glotze hocken, auf der eher Unterhaltungssendungen als Dokumentationen oder Autorenfilme laufen. Es ist nichts falsch an diesem Lebensstil, es kommen nur eher wenig Schwule und Lesben in dieser Lebenswelt vor. Um so wichtiger ist es für junge Schwule und Lesben, Vorbilder (und ja: auch Held_innen) in den gesellschaftlichen Systemen zu finden, die für sie relevant sind. Und tja, das ist eben der Profisport und nicht die Kabinettssitzung. Das sind Dinge, die man™ cis-Heten manchmal noch erklären muss. Macht aber nix, hab ich ja jetzt.

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Es ist bloß Hass – 2

Wo wir gerade bei Hass waren. Die Facebook-Diskussion zum öffentlichen Schlaganfall des ehemaligen Die-Renten-sind-sicher-Ministers Blühm ist auch ein Autounfall. Man sollte nicht hinsehen, aber es ist schwer, wegzuschauen:

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Wie man sich bettet…

Ich kenne schon komische Leute, die noch komischere Leute kennen:

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Es ist bloß Hass

Es wird Zeit, dass wir endlich offen sagen, um was es sich bei dieser Monomanie handelt, ständig auf den Rechten von Lesben und Schwulen herumzuhacken und es nicht einfach mal gut sein lassen zu können: Es ist Hass. Es ist ein Hass gegen das Fremde und die Abweichung.

Wir kennen diesen Hass aus der Vergangenheit nur zu gut und so wie wir heute über Rassisten und Antisemiten denken, werden wir in nicht allzu ferner Zukunft auch über Homophobe denken: als ewig gestrige, die aus uns völlig unverständlichen Gründen Hass verbreiten.

Nun, Herr Blüm gehört jetzt auch dazu. Seine Entscheidung.

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