Konzentrationsprobleme bei Frontal21

Vor etwas über zwei Monaten brachte das TV-Magazin Frontal21 einen unglaublich schlechten Beitrag zu AD(H)S und Ritalin, der den üblichen Schwachsinn interessierter Eso-Kreise besonders widerlich wiederkaute. Ich rantete einige Zeit auf Twitter herum, bis mich der Twitter-Account von Frontal21 aufforderte, doch eine E-Mail zu schreiben. Das tat ich, aber ich bekam bisher keine inhaltliche Antwort. – Ehrlich gesagt hätte mich das auch überrascht, denn schließlich lebt die Ritalin-Hysterie von Vorurteilen und Lügen, denn schließlich verkauft sich die Behauptung, die Pharmaindustrie würde Kinder fressenvergiften wollen, einfach besser als ein: „Es gibt schon ein paar Probleme, doch die Situation ist nicht sonderlich dramatisch.“ Das gilt vermutlich auch für Frontal21 und so kümmert man sich dort nicht immer um die Wahrheit, wenn sie sich nicht gut verkauft. Schade.

Gerne dokumentiere ich hier die E-Mail, die ich Frontal21 schrieb:

Subject: Krasse Fehler im AD(H)S-Beitrag
Date: Tuesday 11 June 2013, 12:28:27
From: Kai Denker <…>
To: frontal21@zdf.de

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe über ein Facebook-Posting Ihren letztwöchigen Beitrag zum Thema AD(H)S gefunden und daraufhin bereits letzte Woche mit Ihrem Twitter-Account diskutiert.

Ich bin ehrlich gesagt enttäuscht, da dieser Beitrag zu den schlechtesten Beiträgen zum Thema gehört, die mir seit langem untergekommen sind. Ich bin auch etwas frustriert, da ich den Eindruck habe, dass man hier zunehmend gegen Windmühlen anschreiben muss.

Ich freue mich zwar, dass Sie sich um das Wohl von Kindern sorgen und skeptisch gegenüber der Pathologisierung von abweichendem Verhalten sind, jedoch haben Sie es versäumt, die entscheidenden Fragen zu stellen. Ich habe mir daher erlaubt, im Folgenden einige Frage aufzulisten (teils mit Ideen einer möglichen Antwort oder Rechercheansätzen), von denen ich hoffe, dass sie Ihnen Anlass für eine erneute Überprüfung Ihrer Behauptungen geben:

(1) Wenn Methylphenidat chemisch ein Aufputschmittel ist, wieso kann es dann überhaupt dazu dienen, AD(H)S-Menschen augenscheinlich(!) zu beruhigen? Wie kann man diese scheinbar paradoxe Reaktion erklären? (Methylphenidat beruhigt tatsächlich AD[H]S-Menschen nicht, sondern macht auch diese wacher – aber eben wach genug, um sich konzentrieren zu können. Anschaulich könnte man sagen, dass AD[H]S-Menschen die „Energie“ fehlt, um sich konzentrieren zu können. Es ist also nicht zuviel „Energie“, die „raus muss“. Andernfalls wäre auch völlig rätselhaft, wieso Methylphenidat als Dopingmittel zur Leistungssteigerung verwendet wird und wieso Studierende es angeblich einsetzen, um ihre Lernleistungen zu verbessern. Ihre Behauptung, man würde mit dem Medikament „unbequeme Kinder ruhig stellen“ ist also grundfalsch und zeigt, dass Sie die Wirkungsweise von Methylphenidat nicht verstanden haben.)

(2) Akzeptiert man aber die Behauptung von der paradoxen Wirkung, dann stellt sich diese Frage: Wenn AD(H)S eine „erfundene Krankheit“ ist, wie kann es dann sein, dass das Medikament bei „Kranken“, also Menschen die in Wirklichkeit gar nicht an AD(H)S leiden sollen, anders wirkt, als bei „Gesunden“? Wenn es keinen wirklichen Unterschied zwischen „Kranken“ und „Gesunden“ gibt (was aus der Behauptung folgt, dass es eine „erfundene Krankheit“ ist), müsste dann das Medikament nicht bei beiden gleich wirken? Anders formuliert: Eine „paradoxe Wirkung“ kann es nur geben, wenn es wirklich einen Unterschied zwischen Kranken und Gesunden gibt – dann kann es aber keine „erfundene Krankheit“ sein.

(3) Hilft das Medikament den betroffenen Menschen? Fühlen sich die Verwender_innen damit besser? (Man kann diese Frage nicht an Einzelfällen, sondern nur mit repräsentativen Studien [Plural!] beantworten, die im Längs- und im Querschnitt betroffene Menschen untersucht.)

(4) Wenn AD(H)S für die Pharmaindustrie ein so wichtiger Markt ist, wieso versucht die Industrie dann nicht mit Scheininnovationen ihren Gewinn zu steigern? Für Methylphenidat ist der Patentschutz schon lange erloschen und es gibt sehr viele Generika. Wieso reitet die Pharmaindustrie einen toten Gaul, wenn sie in anderen Fällen mittels Scheininnovationen ihren Umsatz so stark steigern konnte? Könnte es nicht sein, dass die Pharmaindustrie gar kein so großes Interesse mehr an Methylphenidat hat? Lassen sich denn konkrete Hinweise finden, dass die Pharmaindustrie Ärzte dazu anhält, genau ihre Ausgabe von Methylphenidat zu verschreiben, während die Krankenkassen sich längst mit der Industrie auf Rabattverträge für konkrete Hersteller geeinigt hat? Wie ist dieses Bild zusammenzukriegen?

(5) Wieso sind es immer die gleichen wenigen „Experten“, die die Existenz von AD(H)S bestreiten? Könnte es nicht sein, dass diese „Experten“ eine Kampagne gegen AD(H)S fahren, um für sich selbst Aufmerksamkeit zu gewinnen, z.B. um Erziehungsratgeber, alternative (selbstentwickelte) Therapien zu verkaufen etc.? Es gibt im Gesundheitsbereich eine so große
Zahl von Quacksalbern, dass es sich doch mal lohnt, auch diesen „Experten“ genau auf die Finger zu schauen, statt sie immer nur als gefällige Stichwortgeber einzusetzen. Haben diese „Experten“ also nicht vielleicht selbst ein Interesse daran, die Existenz von AD(H)S zu bestreiten, das möglicherweise sogar in einer eigenen Gewinnerzielungsabsicht liegt und gar nicht das Wohl der Kinder im Blick hat?

(6) Lässt sich die Veränderung der Zahl der AD(H)S-Diagnosen nicht auch anders erklären? z.B. durch gestiegenes Bewusstsein für die Krankheit? Die im Beitrag genannten 20 Jahre sind ein langer Zeitraum und es handelt sich um einen komplexen Zusammenhang, der zum Anstieg führen kann.
Beispielsweise „gibt“ es AD(H)S in Deutschland für Erwachsene erst seit wenigen Jahren. Zuvor galten betroffene Menschen mit ihrem 18. Geburtstag als „geheilt“. Könnte der Anstieg nicht auch dadurch geklärt werden, dass hier nun eine differenziertere Sicht vorherrscht (und anders formuliert: erwachsene AD(H)S-Menschen nicht mehr im Stich gelassen werden)?

(7) Könnte die schlechte Qualität der AD(H)S-Diagnostik, d.h. die Über-, aber auch die Unterdiagnose, nicht am Fehlen von Fachärzten liegen? AD(H)S ist ein kompliziertes Krankheitsbild, das von Hausärzten kaum abgedeckt werden kann. Gleichzeitig haben Fachärzte in vielen Städten Wartelisten von sechs bis neun Monaten und es gibt nur wenige AD(H)S-Schwerpunkt-Praxen. Könnte es nicht sein, dass die Probleme des Gesundheitssystem, insbesondere die Teils katastrophale Unterversorgung mit Fachärzten, eine größere Rolle spielen als die „Erfindung einer Krankheit“ oder mangelnde Bereitschaft, sich mit „schwierigen Kindern“ auseinanderzusetzen?

(8) Die Aushandlungsprozesse in einer wissenschaftlichen Community sind kompliziert und entsprechend ist auch die Erstellung des DSM ein heikler, komplexer Vorgang, der auch kulturelle Unterschiede einschließt. (Z.B. könnte die aus europäischer Sicht absurde Pathologisierung von Trauerphasen mit einem anderen arbeitsrechtlichen Umfeld in den USA zu tun haben, sodass hier Trauernde über den Umweg eine Pathologisierung eine Unterstützung erhalten, die in Europa durch andere Mechanismen gewährt wird?) Dennoch lässt sich die Aufnahme einer „erfundenen Krankheit“ nur dann plausibilisieren, wenn man annimmt, dass die Mehrheit der beteiligten Wissenschaftler_innen entweder „dumm“, „bösartig“ oder „korrupt“ sind. Das ist aber an sich keine plausible
Annahme: Vermutungen, eine ganze Community sei dumm, bösartig oder unfähig, verbieten sich eigentlich von selbst, sofern nicht gezeigt werden kann, wie genau ihre Arbeitsweise es verhindert, dass sich neue Positionen durchsetzen oder dass Kritik gehört und beantwortet wird. Die Annahme, die Mehrheit der Wissenschaftler_innen sei korrupt, also von der Pharmaindustrie bezahlt, kann nicht ganz ausgeschlossen werden. Sollten Sie Hinweise darauf finden, dass die Mehrheit der Wissenschaftler_innen gekauft ist, geben Sie meine E-Mail-Adresse bitte an die Pharmaindustrie weiter, damit  ich meinen Honorarcheck erhalten kann. Im Ernst: Der Wissenschaftsprozess ist auf die Außenseiter angewiesen, aber fast immer liegen die Außenseiter falsch und wir tun gut daran, deren Positionen nicht übermäßig zu beachten. Nicht jeder Außenseiter ist ein Galileo Galilei. Das ist nicht wirklich eine Frage, aber dennoch: Ich habe Sie falsch verstanden, dass Sie unterstellen wollten, die meisten Wissenschaftler_innen, die am DSM beteiligt waren, seien in irgendeiner Form korrumpiert, oder?

Ich würde mich freuen, wenn Sie diese Punkte gelegentlich nicht wegwischen, sondern bedenken würden. Auch über eine Antwort würde ich mich sehr freuen.

Mit lieben Grüßen aus Darmstadt,

Kai Denker

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Ich hab’s doch nur gut gemeint

Die etwas bizarre Diskussion zu whistle.im, in der nexus vom CCC Hanover dem angeblich sicheren Instant Messenger schwere Designfehler nachgewiesen und auf die der Anbieter etwas weinerlich reagiert hat, erinnert an ein Problem, das uns Nettigkeit und Weichheit im Umgang mit Unsinn eingebrockt hat: Jemand mag noch so einen Bullshit bauen, vermag aber Absolution zu beanspruchen, wenn die Absichten nur hinreichend redlich waren: …ich hab’s doch nur gut gemeint. – Ja, mag sein, war trotzdem scheiße und hat eine schlimme Situation noch schlimmer gemacht. Im vorliegenden Fall wurde Menschen, die sichere Kommunikationsmittel benötigen, eine Sicherheit vorgespielt, die schon qua Design unmöglich ist. (Wenn whistle.im also ankündigt, die Lücken, die ihnen vorgehalten wurden, zu beseitigen, dann meinen sie damit hoffentlich, dass sie das komplette bisherige Design wegwerfen und zurück an den Anfang der Entwurfsphase gehen.) Kurz: Der ohnehin unübersichtliche Markt von unsicheren und halbsicheren Instant-Messenger-Lösungen wurde um eine Anwendung reicher, die Sicherheit nur vorspielt und daher Menschen gefährdet, die ihre Sicherheit nicht selbst einschätzen können.

„Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“, heißt es in Dantes Göttlicher Komödie. Und ich muss mal wieder an all die Schwätzer, Homöopathen, Hinterbänkler, Minister, Mitarbeiter, … denken, die in den besten Absichten völlige Scheiße bauen und sich am Ende über eine Kritik beklagen, die sie so verdient haben.

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Der unbestimmte Artikel

Manchmal sind es Kleinigkeiten, die eine Geisteshaltung verraten. Diesmal ist es eine Artikelüberschrift:

London: Partner eines schwulen Journalisten festgehalten

Gemeint ist Glenn Greenwald, dessen Lebenspartner von britischen Beamten am Flughafen Heathrow schikaniert und ausgeplündert wurde. Das Medium, das diese denkwürdige Überschrift produziert hat, ist das schwule „Nachrichtenportal“ queer.de, das sich in den vergangenen Jahren vor allem dadurch hervorgetan hat, dass es die Piratenpartei hasste, Netzpolitik geringschätzte und sich tief ins Gesäß von Volker Beck und seiner Partei vergraben hat. Entsprechend ist queer.de hinsichtlich NSA-Skandals auch ein Totalausfall:

gayromeo.com sitzt mittlerweile in den Niederlanden, ist also „Auslandsdatenverkehr“. Der BND möchte die Überwachung von „Auslandsdatenverkehr“ ausbauen. recon.com, das sich an schwule Fetischisten wendet, sitzt in Großbritannien und wer in den letzten Monaten nicht unter einem Stein, sondern in der Nähe einer Zeitung o.ä. gelebt hat, hat mitbekommen, dass die Briten wenig Zurückhaltung bei der Massenspeicherung kennen. Hinzu kommt, dass recon.com kein HTTPS unterstützt und so alle Bilder der geneigten Gummi- und Lederfetischisten komplett unverschlüsselt durch die Abhörhardware läuft. Es gäbe also eine Menge schwuler Themen am Überwachungsskandal und es gäbe genug Grund, mal die eine oder andere Frage zu stellen – und sei nur, dass queer.de mal bei recon.com anfragt, wie es denn so mit HTTPS aussieht.*

Doch nichts davon auf queer.de. Anzahl Beiträge: NULL.

Grandioser kann man ein Thema nicht verkacken und ich kann mir nicht vorstellen, wie sich queer.de noch weiter blamieren will.

 

 

* Ja, es ist mir bekannt, dass HTTPS Geheimdienste nicht wirklich abhalten wird. Dennoch ist es ein kleiner Skandal, dass recon.com kein HTTPS unterstützt.

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Schwuler Sport

Gestern saß ich in Darmstadt im F-Bus vom Schloss zum Hauptbahnhof. Am Luisenplatz stieg ein junger Typ, blaues Shirt, ein, fing sofort an zu telefonieren und berichtete so laut, dass der ganze Bus es hören könnte, von seinem tollen neuen wissenschaftlich begründbaren Hochintensitätsfettverbrennungssport namens „Tabata“:

Der heißt Tabata… ja, ich weiß, das klingt total schwul. Der ist aus Japan. Die haben doch alle so Namen.

Mir schräg gegenüber saß eine Speckbarbiejunge Frau, die sich über die Bezeichnung eines japanischen Nachnamens als schwul sichtlich amüsierte. Ich schaute sie streng an und schüttelte den Kopf. Sie verstummte und schaute verschämt weg – offenbar wissend, dass ihr Amüsement unangemessen war.

Warum ich das erzähle? Weil ich mich über mich selbst ärgere. Ich hätte dem Typen sofort ein „Ey!“ an den Kopf knallen sollen. Hätte. Andererseits habe ich keine Lust, jedesmal, wenn irgendein (vermutlich heterosexueller) Vollidiot irgendwo seine Arschlochigkeit zelebriert, zu widersprechen. Ich habe überhaupt keine Lust, mit solchen Menschen überhaupt irgendwas zu tun zu haben. Wer mag schon Arschlöcher? Und wer mag dann mit diesen Leuten auch noch reden wollen? Und sei es nur ein „Ey!“…

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Die verdiente Regierung

Die Stadt Darmstadt stellt gerade entlang der Hauptverkehrsstraßen in relativ großer Dichte neue Blitzer auf. Ich finde das insofern gut, als dass ich an so einer Straße wohne und seit Jahren irgendein (vermutlich männlicher) Sportwagenfahrer fast jede Nacht wie eine besengte Sau durch die Stadt rast, die Leute aufweckt und vermutlich nur dank einigen Glücks noch niemanden umgenietet hat.

Andere Darmstädter finden die neuen Blitzer weniger gut und toben sich auf einschlägigen Facebook-Seiten wund. Von modernem Raubrittertum ist die Rede, von der Verschwendung von Steuergeldern, von Frechheiten gegenüber der armen Bevölkerung und – man lese und staune – von gefährlichen Eingriffen in den Straßenverkehr: Es verhalte sich nämlich so, ließ uns eine offenbar leicht verwirrte junge Frau wissen, dass nun die Menschen, die nicht gut autofahren könnten, besonders vorsichtig fahren und Ausschau nach Blitzern halten würden und daher nicht mehr auf die Straße achteten. Mir ist noch immer unklar, wie viel Schwermetall sich in einer Großhirnrinde ansammeln muss, um sich zu trauen, so einen Mumpitz öffentlich zu schreiben, aber gut…

…auffällig ist, dass die gleichen Leute grob zwei Wochen vorher auf der gleichen Facebook-Seite allesamt nichts zu verbergen hatten, insbesondere da ja alles nach Recht und Gesetz ablaufe, sowieso alles überwacht würde und außerdem die NSA ja niemals so viele Analysten beschäftigen könnte, um alle E-Mails zu lesen. (Fachliche Einwände von anwesenden Informatikern, die auf algorithmische Auswertungsmöglichkeiten hinwiesen, wurden als Science Fiction abgetan.)

Nun, Darmstädter machen also keine Ausnahme: Egal wie tief ein Geheimdienst ihnen ins digitale Arschloch kriecht, es hat niemand was zu verbergen. Aber sobald ein paar Blitzer aufgestellt werden, haben wir Revolution. Bei so viel zerebraler Schwermetallvergiftung stimmt der Satz, jedes Volk bekomme die Regierung, die es verdiene, nicht: Wir haben es noch viel zu gut getroffen.

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Der homosexuelle Spießer und sein Publikum

Warum feiern wir eigentlich CSDs? Die Frage ist ernst gemeint. Natürlich kenne ich die Geschichte der CSDs. Das ist nicht der Punkt. Eher macht es meine Frage noch dringender: Warum feiern wir ein spießiges Familienfest, auf dem Lederkerle und Dragqueens nicht zu unserer Familie gehören, sondern exotische Randfiguren sind, die wir bestenfalls auf Bühnen lustig finden und uns immer ganz schnell versichern, dass die meisten Schwulen ja ganz durchschnittlich sind?

Wann genau ist das passiert, dass die schwulen Spießer begannen, auf die extremen Figuren unserer Familie herabzusehen und in ihnen ein Hindernis zu sehen? Sollte man solche CSDs feiern? Die Antwort muss wohl „nein“ lauten.

Gestern war der dritte Darmstädter CSD. Erst eine kleine Parade mit Zwischenkundgebung auf dem Luisenplatz und dann ein Straßenfest auf dem Riegerplatz. Ein hübsches Fest, aber einem CSD unwürdig.

Wieso? Lasst mich ein Beispiel herausgreifen. (Hinter den Kulissen ist noch eine viel viel größere schwule Spießerschweinerei gelaufen, aber ich möchte das im Moment nicht öffentlich thematisieren.) Das Beispiel das ich herausgreifen möchte, ist die sicher gut gemeinte, aber schlecht gemachte Rede eines Vereinsvorstands auf der Zwischenkundgebung:

Dieser lieferte nämlich eine Rede, die am besten mit einigen Einwänden zu beantworten ist, aus denen sich die Leser_in dann gerne das Weitere zusammenreimen kann. (1) Grundrechte für Schwule und Lesben hängen nicht davon ab, ob wir nette Menschen sind. Auch als übelste Kotzbrocken stünden uns alle Rechte zu. Das stimmt sogar (2) noch, wenn wir nachweislich schlecht fürs Wirtschaftswachstum wären. (3) Das Recht auf eine Öffnung der BGB-Ehe für die, die sich diesem repressiven System unterwerfen wollen, hängt nicht daran, ob Schwule und Lesben sich einander genauso lieben können wie Heteros. Selbst wenn wissenschaftlich zweifelsfrei belegbar wäre, dass wir uns einander immer nur halb so stark lieben wie die Heten, stünde uns dieses Recht zu. (4) Die Frage nach dem vollen Adoptionsrecht hängt nicht daran, ob Schwule gute Väter sein können. Die Frage darf überhaupt nicht von der sexuellen Orientierung abhängen, sondern nur und nur davon, ob die Menschen, die sich um eine Adoption bemühen, geeignet für das in Frage kommende Kind wären. Selbst wenn Schwule und Lesben im Durchschnitt schlechtere Eltern wären (Konjunktiv), dürfte ihnen nicht mit Verweis auf die sexuelle Orientierung die Adoption verwehrt werden, sondern es müsste eine Prüfung unabhängig davon stattfinden. Gegen den Ausschluss bestimmter sexueller Orientierungen hilft es nicht, diese Orientierung für gleichwertig zu erklären, sondern die Abschaffung dieses Entscheidungskriteriums zu fordern. Dazu müsste man allerdings des Nachdenkens willig sein. (5) Stünde uns all das auch dann zu, wenn alle Schwulen Dragqueens oder Lederkerle wären und es muss der Prüfstein unserer Bewegung sein, ob wir auch deren Rechte noch gemeinsam fordern können, anstatt sie im Interesse der Spießerschwuchteln verschwinden zu lassen. Überhaupt (6) die Werte! Es ist völliger Bullshit, Rechte mit Verweis auf Werte einzufordern. Wir haben die vollen Rechte auch dann noch verdient, wenn wir keinen einzigen Wert der Heten teilen würden. Unsere Rechte hängen nicht daran, ob wir eine billige Kopie der Heten sind, sondern sie kommen uns schlicht qua Menschsein zu. So wie dieser Vereinsvorsitzende hingegen argumentierte, verkaufte er einen Rückfall in die homophile Politik der 1960er Jahre. Ein völliger Verlust jedes kritischen oder emanzipatorischen Potentials! Die bestehenden Verhältnisse werden ohne jede Kritik als die guten und richtigen affirmiert und die Lebensweise der Heten wird zum heiligen Vorbild gemacht. Ein abscheuliches Armutszeugnis wurde uns da verkauft und eine völlige Entsolidarisierung mit den Randgruppen in den Randgruppen.

Rosa von Praunheim brachte es 1971 gekonnter auf den Punkt:

Da die Schwulen vom Spießer als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie noch spießiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden. Sie sind politisch passiv und verhalten sich konservativ als Dank dafür, dass sie nicht totgeschlagen werden. Schwule schämen sich ihrer Veranlagung, denn man hat ihnen in jahrhundertelanger christlicher Erziehung eingeprägt, was für Säue sie sind. Deshalb flüchten sie weit weg von dieser grausamen Realität in die romantische Welt des Kitsches und der Ideale. Ihre Träume sind Illustriertenträume, Träume von einem Menschen, an dessen Seite sie aus den Widrigkeiten des Alltags entlassen werden in eine Welt, die nur aus Liebe und Romantik besteht. Nicht die Homosexuellen sind pervers, sondern die Situation, in der sie zu leben haben.

Während der Rede, als ich mich halblaut beklagte, drehte sich ein Typ, den ich nicht kannte, zu mir um und fragte, warum ich dieses Jahr keine Rede gehalten hätte. Meine Rede vom letzten Jahr sei doch viel besser gewesen, so inhaltlich. Ich bin mit meinem Ärger offenbar nicht allein.

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Supersicherheitsgrundrecht

Heise hat sich auf die Spurensuche nach dem Begriff des Supergrundrechts „Sicherheit“ begeben und mit Josef Isensee einen konservativen Staatsrechtler ausgegraben, der ein Grundrecht auf Sicherheit schon in der Virginia Bill of Rights gefunden haben will, einem Verfassungsdokument aus der Zeit der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, also aus dem späten 18. Jahrhundert. Laut Müllhalde heißt es dort in Artikel 3:

That government is, or ought to be, instituted for the common benefit, protection, and security of the people, nation or community; of all the various modes and forms of government that is best, which is capable of producing the greatest degree of happiness and safety and is most effectually secured against the danger of maladministration; and that, whenever any government shall be found inadequate or contrary to these purposes, a majority of the community hath an indubitable, unalienable, and indefeasible right to reform, alter or abolish it, in such manner as shall be judged most conducive to the public weal.

Interessant ist, dass in diesem Ausschnitt sowohl das Wort „security“, als auch das Wort „safety“ auftreten, die beide in der Übersetzung mit „Sicherheit“ angegeben werden, da – anders als das Englische – das Deutsche hier nicht zwischen einer „Angriffssicherheit“ (security) und einer „Betriebssicherheit“ (safety) unterscheidet. security tritt zweimal im Text auf: einmal als Aufgabe der Regierung, das andere mal als Schutz gegen die Regierung. Schon hier ist die Figur der Sicherheit in der Virginia Bill of Rights also gebrochen und tritt in zwei verschiedenen Bedeutungen auf. Ebenso das Wort safety, das einmal im Text auftritt und nicht den Schutz gegen Bedrohungen bezeichnet, sondern sich auf die Zuverlässigkeit der Lebensverhältnisse im Sinne einer Stabilität bezieht. Gemeint ist also eher etwas wie soziale Sicherheit, eine stabile Einkommensquelle zu haben etc.

Wenn das „Supergrundrecht“ irgendwo also auf so alte Rechtsquellen hinauslaufen können soll, wie konservative Autoren vielleicht nahelegen wollen, um sich einen Fremdkörper im deutschen Verfassungssystem herbeizufabulieren, dann muss man ihnen die zwei weiteren Sicherheiten entgegenhalten, die ebenso aus diesen Quellen folgen müssen:

  1. die Sicherheit der Bevölkerung vor einer schlechten Regierung, die nicht mehr im Interesse des Volkes handelt, sondern die eigenen postdemokratischen Interessen verfolgt und
  2. die Sicherheit der Lebensverhältnisse im Sinne einer Stabilität, die das Glücksstreben kennt und nicht Menschen immer mehr in prekäre Lebensverhältnisse bringt.

So gesehen ist es vielleicht eine dumme Idee, wenn sich konservative Autoren auf Dokumente berufen, die in einem Freiheitskampf gegen monarchische Herrschaft nur das Vorspiel zu einer Revolution waren: Man könnte versucht sein, den dritten Artikel dieses Dokuments ganz zu lesen und darüber zu befinden, ob diese Regierung nicht entgegen den Interessen des Gemeinwesens handele und daher geändert werden solle.

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Die EKD mag keine Schwulen und Lesben

Man lese und staune:

This message was created automatically by mail delivery software.

A message that you sent could not be delivered to one or more of its recipients. This is a permanent error. The following address failed:

„internet@ekd.de“:
SMTP error from remote server after transfer of mail text:
host: mail.ekd.de
5.7.1 MAIL VERSTOESST GEGEN EMPFAENGER-SICHERHEITSRICHTLINIE / email was rejected because it violates our security policy
5.7.1 Found prohibited words in the mail: gay, lesbian
— The header of the original message is following. —

Received: …
From: Kai Denker <…>
To: internet@ekd.de
Subject: Testmail gay lesbian
Date: Fri, 17 May 2013 15:58:06 +0200
Message-ID: <1882037.u5YdfAiUKp@deleuze>

Update vom 22. August 2013: Spontan nochmal probiert und offenbar werden diese Wörter nun nicht mehr gefiltert. Es gibt bestimmt noch eine ganze Menge weiterer Randgruppen, die als Sicherheitsrisiko eingestuft werden. Vielleicht mag das ja mal jemand testen.

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Die unhöfliche Übersetzung

Ich habe mir für dieses Wochenende vorgenommen, Deleuzens Proust und die Zeichen (zuerst 1964 als Proust et les signes) zu lesen. Da mein Französisch nicht ausreicht, um solch einen Text schnell zu lesen, da ich ständig etwas nachsehen müsste, habe ich mich für Henriette Beeses Übersetzung entschieden, die 1993 im Merve-Verlag erschienen ist. Wie zu erwarten war, zitiert Deleuze ständig Proust (es ist ja schließlich ein Buch über Proust!), aber leider hat Beese sich dagegen entschieden, die teils länglichen Zitate in der deutschen Übersetzung im Fließtext anzugeben, sondern diese nur in den Endnotenapparat aufnehmen. Ich darf also ständig blättern.

Eine Frage drängt sich auf: Mal davon abgesehen, dass ich mein Französisch wirklich aufpolieren sollte, ist es dann nicht trotzdem unhöflich, eine Übersetzung so zu arrangieren? Wenn ich Französisch halbwegs mühelos lesen könnte, wieso sollte ich dann nicht gleich den Originaltext lesen? Ich ärgere mich über Beese, aber auch über den achtlosen Verlag etwas. Lesen werde ich das Buch trotzdem, aber eben mit unnötiger Mühe.

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Twitter ist nicht totalitär, Du Honk!

Anscheinend springen schnell noch einige auf den abfahrenden Lauer-Zug auf und schimpfen auf Twitter. Besonders lustig (und fabelhaft falsch) finde ich ja Katrin Rönickes Rant, dass Twitter wie die DDR sei. Das klingt lustig und interessant, ist aber leider ziemlicher Blödsinn.

Von einigen anekdotischen Bemerkungen abgesehen scheint mir Rönickes Argument darauf hinauszulaufen, dass die Diskursformation auf Twitter abweichende Meinungen sanktioniere und daher totalitär (=DDR) sei. Akzeptieren wir die Behauptung, die DDR sei totalitär gewesen, unhinterfragt, obgleich sie, wenngleich wahrscheinlich grob richtig, eine ziemlich unterkomplexe Beschreibung der Herrschaftsformen im DDR-Sozialismus darstellt. Es bleibt also zu zeigen, dass die Sanktionierung von Meinungen auf Twitter totalitär ist.

Nun, dieser Versuch scheitert: Für die Totalität fehlt die totale ideologische Konstitution einer gemeinsamen Idee von der materialistisch-historisch aufgeladenen Revolution der Arbeiterklasse o.ä. – Die Herstellung von Totalität in einer Diskursformation hängt aber genau am Vorhandensein einer totalitären Ideologie, die sich in den einzelnen Aussagen ihrer Anhänger bloß aktualisiert. Was prima facie totalitär erscheint, muss aber nicht notwendig im engeren Sinne totalitär sein. Tatsächlich beschreibt Rönicke auch keine Totalität, die die ganze Diskursformation auf Twitter erfasst, sondern umkreist ein nur anekdotisch verankertes Problem. Totalität hat seine Wurzel im lateinischen: „totus“ bedeutet „ganz“. Damit kann es in der lokalen Filterblase sicher totalitäre Ideologien geben, die abweichende Meinungsaktualisierung sanktioniert, aber damit ist noch lange keine Aussage über alle Aussagen auf Twitter und schon gar keine Aussage über Twitter selbst erbracht. Würde dieses Argument funktionieren, dann wäre die Menge der natürlichen Zahlen nämlich prim und insbesondere alle natürlichen Zahlen selbst wären prim, denn schließlich gibt es unendlich viele konkrete einzelne Primzahlen: von den Eigenschaften einer Teilmenge ist aber weder auf die Extension der Grundmenge noch gar auf die Intension derselben zu schließen.

Stattdessen ist Twitter vom Totalitären maximal weit entfernt. Twitter bildet etwas, was man als ein fragmentarisches Ganzes charakterisieren kann. Es gibt keine durchgehende Diskursformation, sondern es gibt je lokale Diskursformationen, die lokal sicher totalitär sein können. Nun, man kann auch einfach die falschen Freunde haben. Die korrekte Beschreibung ist daher nicht die Totalität, sondern die Meute. Die übergreifende (Familien)Ähnlichkeit der Twitter-Diskursformationen findet sich allenfalls im Konzept der Meute, das ohne gemeinsame Regel auskommt. Es ist eine Ansammlung (keine Versammlung!) von Benutzer*innen, die nicht auf der Basis von Argumenten oder Ideen, sondern auf der Basis von Affekten operieren: Interessant ist, was über die Bewusstseinsschwelle kommend aus dem schnellen Strom der Tweets heraus einen Affekt auslöst, der beispielsweise belustigen oder empören kann. Das ist aber nichts besonderes für Twitter mehr. Twitter macht es nur besonders offensichtlich. Die Meute, die sich von Argumenten zugunsten von Affekten verabschiedet hat und von diesen treiben lässt, ist auch die Meute, die Blogs liest und von einer Aussage wie „Twitter ist totalitär!“ empört wird, um darauf zu reagieren – etwa mit einem gezielten „Du Honk!“ Das Kesseltreiben der Meute könnte aber nicht weiter entfernt sein von der Inszenierung Orwells oder der Planung eines DDR-Zentralkomitees. Sowas sollte man™ eigentlich wissen.

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